Mein erster Deutschlehrer war mein Cousin Gary. Leider lebt er nicht mehr. Er hätte sich gefreut, dass ich über ihn schreibe.
Eigentlich hatte Gary kaum Deutschkenntnisse. Immerhin mehr als ich. Er konnte, zum Beispiel, „Achtung!“ sagen, wobei die Betonung auf der zweiten Silbe lag. Auch „Schweinehund!“ zählte zu seinen Lieblingswörtern der deutschen Sprache. Er sagte aber „Schweinhund!“ auch mit der Betonung auf der zweiten Silbe.
Gary hat mir auch das „Gestapospiel“ beigebracht. Sie kennen es wahrscheinlich nicht.
Am Anfang des Spiels warf er mich grob auf den Boden und setzte sich auf mich. Ich war ein dürres Kind mit dünnen Beinchen wie eine Schnake. Er war sieben Jahre älter und entsprechend schwerer. Er drückte meine Arme mit seinen Knien fest gegen den Boden und fragte als erstes – auf Englisch – mit Fantasiedeutschem Akzent: „Wat iss jor näm?“ Also, „What is your name?“.
Unterdessen kicherte ich viel, obschon es mir nicht ganz wohl zumute war. Denn ich fühlte mich wie plattgedrückt von ihm. Ich antwortete aber ganz aufrichtig mit meinem echten Namen.
Es folgten aber sogleich endlose Watschen. Die taten nicht schrecklich weh aber doch ein bisschen. Obendrein war ich fixiert gegen den Boden. Und während er mich ohrfeigte, brüllte Cousin Gary vergnügt…“Ju lei, ju lei!!“ Also, du lügst, du lügst. Ich lachte natürlich, aber nicht ohne eine Portion Unbehagen.
Dann kam die nächste Frage: „Wer du ju liff?“ Also, where do you live. Wieder versuchte ich ehrlich zu antworten – immer der Brave. Denn so einer war und bleibe ich…
„Ju lei! Ju lei!“ kreischte er, und es regnete wieder Watschen. Und ich? Ich lachte.
Nun die dritte Frage… nach meiner Telefonnummer und weitere Watschen, egal was ich antwortete, und Beschimpfungen, dass ich lüge. Bis dahin war ich den Tränen nahe. Doch das wusste Gary nie, weil ich noch immer lachte, wenn auch ein bisschen hysterisch.
Irgendwann pflegten meine Mutter und seine Mutter ins Zimmer zu stürmen. Sie rügten Gary und tröstete mich das arme Baby oder so.
Egal. Das Spiel machte Spaß, weil ich Gary sehr schätzte; und wir spielte es immer wieder gern.
Ja, so war mein Einstieg in die dt. Sprache und Kultur.
Eigentlich wollte ich heute über ein anderes Thema schreiben. Aber dann fiel mir die Geschichte mit Gary ein. Nicht allerdings von ungefähr, wie ich unten erklären werde. Heute wollte ich nämlich den Unterschied zwischen dem deutschen Wort „liberal“ und dem englischen „liberal“ (gesprochen „libbr’l“) erläutern.
Wieso komme ich darauf? Weil ich heute auf einen Kommentar in der New York Times gestoßen bin, geschrieben (auf Englisch?) von der deutsch-kroatischen Schriftstellerin Jagoda Marinic. Die Überschrift lautete „In Germany, liberals bond over Trump“. Zu Deutsch: In Deutschland, schließen sich die Liberalen zusammen“.
Fakt ist aber: Der Titel passt nicht zum Inhalt des Textes, und ich weiß, warum: Frau Marinic verwendet in ihrem Text den Begriff „liberal democracy“ (die sie durch Mr. T. bedroht sieht). Dieser Begriff hat den Editor offenbar in die Irre geführt.
Denn Europäer – und damit meine ich nicht nur Deutsche – verstehen unter dem Wort „liberal“ etwas ganz anders als Amerikaner.
Und so kam ich auf meinen lieben Cousin Gary. Vor einigen Jahren sprachen wir am Telefon und kamen u.a. aufs Thema Politik, wobei ich den Neo-Liberalismus“ kritisierte. „Na, endlich bist du erwachsen,“ sagte Gary erfreut, „Du distanzierst dich von den „liberals“.
Seine Bemerkung hat mich zunächst ein wenig verwirrt. Bis es mir einfiel, dass dieses Wort in den USA einen anderen Sinn hat als in Europa.
„Libb’rl“ auf Amerikanisch bedeutet „Linker“. Der linke Flügel der SPD, die Grünen und natürlich die „Linke“ würde man im amer. Sinn, als „libbr’ls“ bezeichnen. Der europäische „Liberal“ ist in den USA vielmehr ein „conservative“ oder „pro-business“.
Das hab ich dann Gary erklärt. Hat er nicht gewusst, gab er zu. Er hat übrigens auch das Gestapospiel längst vergessen.
Add new comment