Der Anfang kam völlig unerwartet - zumindest in München, wo uns bislang die Unannehmlichkeiten, die anderswo an der Tagesordnung waren, erspart geblieben waren.
Es war kurz vor 11 Uhr, am Marienplatz.
Wie immer hatte sich eine erhebliche Menschenmenge angesammelt, um die beliebte Glockenspielvorführung zu bestaunen. Es waren natürlich hauptsächlich Touristen, die die Zeit abwarteten, Köpfe nach hinten gerenkt, bis das Schauspiel im Glockenturm des Rathauses um punkt 11 beginnen sollte. Die Hiesigen schauten (wie üblich) nicht einmal hin, nicht weil sie sich nicht dafür interessiert hätten, sondern weil sie um Himmelswillen nicht mit Auswärtigen verwechselt werden wollten. Eine gewisse Lässigkeit zu bewahren war Ehrensache.
Endlich läutete die Stunde. Und nun ruckelten da oben die bunten Höflinge und Moriskentänzer tikkitakki vorbei, so als ob sie jauchzend an der Hochzeit von Herzog Wilhelm V. mit Renate von Lothringen teilnahmen.
Plink plink. Plink-i-klink. Klink-i plink plink plink-i-plink usw. bimmelten die munteren Glocken.
Alle Augen (d.h. der Touristen) waren auf das Ereignis gerichtet. „Uuuh! Ahhh!“ staunten manche. A Gaudi. Und dann geschah es.
B U M ! ! PLATSCH! PLATSCH! PLATSCH!
Denn plötzlich flogen mit einem Affenzahn aus allen Richtungen lauter fettige Weißwurststücke - samt süßem Senf - durch die Luft über den Marienplatz. Ein wurstiger Regen platschten unbarmherzig gegen Körper und Dinge.
Alles war scheinbar bestens koordiniert. Das fleischige Geschoss traf nämlich innerhalb Sekunden alle Umeinanderstehende.
Die Luft roch so stark nach Kalbsfleisch, nach süßem Senf, nach Fett, man hätte sich in einer alten bayerischen Gaststätte gewähnt. Es fehlten nur die Brezen. Unterdessen stieg ein kollektives Geschrei vom Publikum hinauf, was das Staunen und die Freude der vergangenen Minuten schleunigst zunichte machte. Ade liebliche Fantasiewelt, wo ruckelnde Roboter eine historische Hochzeit nachempfinden ließen. Sofort saß der Schock tief.
Kein Mensch hätte berichten können, was ihm geschehn war. Aus der Entfernung vernahm man das Geplärr der Martinshörner. Das hysterische Tatütatü näherte sich dem Marienplatz aus allen Richtungen zugleich.
Inzwischen hatten sich Benommene kopfschüttelnd auf den Boden hingesetzt, unfähig anderes zu tun. Auch Einheimische zählten zu den Verletzten. „Verletzte“ ist vielleicht übertrieben, besser gesagt „Betroffene“. Denn kein Mensch kam wirklich zu Schaden. Die Verletzungen waren vielmehr in der Seele.
Umso weniger war keiner in der Lage, das wurstige Attentat zu erklären. Denn zu Lange hatte man München für eine Insel der Seligen gehalten.
Damit war aber vorerst vorbei. München war ebenso verletzlich wie jede andere Stadt in Deutschland, in Europa, in den Amerikas und in Asien.
So viel stand fest: Es handelte sich mit Sicherheit um eine Verschwörung. Doch wer steckte dahinter?
Außer Theorien hatte bisher niemand eine Ahnung. Jeder hatte bis vor kurzem geglaubt: Die Ruhe wird bald in die Welt zurückkehren. Die „verrückten Jahre“, wie man die vorigen vier Jahre allgemein bezeichnete, seien vorbei. Jetzt geht’s wieder aufwärts.
Wohl nicht. Denn das, was hier beschrieben wird, war erst der Anfang. „Der Terror“, wie man es inzwischen global nannte, sei nicht mehr wegzudenken.
Es gab viele Fragen und noch immer kaum Antworten…
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