Lange hatte ich nicht gewusst, dass mein Nachbar, Herr S. an Alzheimer litt. Wir haben uns stets bestens unterhalten. Er hat mir endlose Geschichten aus seiner Jugend und aus dem Krieg erzählt, hat seinen Vater, zu dem er ein ambivalentes Verhältnis hatte, gekonnt porträtiert, hat mir unterhaltsame Ereignisse aus seinem Geschäftsleben und über die skurrilen Figuren, mit denen er damals zu tun hatte, erzählt. Er war nämlich Rechtsanwalt in Ruhestand.
Kann sein, dass er manchmal eine Geschichte wiederholte, aber so what. Das tu ich auch, wenn mir etwas besonders gefällt.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau ich erfuhr, dass er Alzheimer krank war. Aber auch nachdem ich Bescheid wusste, blieb es bei business as usual. Unsere Gespräche waren ebenso unterhaltsam wie immer.
Herr S. hat mich niemals mit Namen genannt. Das war mir aber nie aufgefallen. Denn ich habe seinen Namen auch niemals in den Mund genommen. Wir waren uns halt beidseitig sympathisch. Mehr ist nicht zu sagen.
Er war der geborene Geschichtenerzähler, niemals langweilig und stets spontan und wortgewandt. Ich wünschte, ich könnte so schön erzählen wie er.
Okay, manchmal war er ja doch ein bisschen vergesslich, was ich nur dann feststellte, weil seine Schusseligkeit seiner Frau auf die Nerven ging. Der Partner/die Partnerin möchte, wenn er oder sie redet, das Gefühl haben, dass der andere zuhört. Wenn es nicht so ist, kann man die Fassung verlieren. So war es bei ihr. Das ist verständlich.
Doch manchmal wurden diese privaten Auseinandersetzungen vor meiner Frau und mir ausgetragen, was mir peinlich war. Ich wäre in solchen Augenblicken am liebsten woanders gewesen.
Eines Abends saßen wir bei Familie S. zu Tisch. Frau S. hat immer köstliche Sachen serviert. Auf einmal griff Frau S. ihren Mann wegen irgendeiner Kleinigkeit heftig an und schimpfte über seine Vergesslichkeit. Er reagierte ziemlich hilflos. Es war nicht schön zu sehen. Doch bald setzten wir, er und ich, unser Gespräch fort, und alles war…vergessen.
Aber dann auf einmal hielt er kurz inne und sagte: „Wissen Sie. Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie Sie heißen“
Daraufhin antwortete ich spontan: „Ist das wichtig?“
Er schaute mich nachdenklich an, dann zuckte er mit den Achseln: „Eigentlich nicht.“
Und dann redeten wir weiter. Keine Ahnung worüber, aber er blieb nach wie vor ein meistervoller Geschichtenerzähler.
Hat er meinen Namen vergessen, weil er Alzheimer krank war? Erst Jahre später fiel mir ein, dass er womöglich zu keiner Zeit meinen Namen kannte. So war er halt. Erzähler hören oft am liebsten die eigene Stimme an.
War das wichtig, dass er meinen Namen nicht wusste?
Eigentlich nicht.
Irgendwann sind wir umgezogen, und irgendwann wurde sein Zustand hoffnungslos, wie es halt ist bei Alzheimer Kranken. Das habe ich jedenfalls später erfahren. Aber so ist es, wenn man an dieser Krankheit leidet.
Ich habe vergessen, wie und wann er gestorben ist. Doch auch das ist nicht wichtig.
Nett Sie kennengelernt zu haben, Herr S.
PS Ich glaube, dass es in der deutschen Sprache den Begriff „der Alzheimer Kranke“ nicht gibt. Aber so what.
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