Seit langem hatte ich vor, einer Bitte meines Freunds Thomas Vašek nachzukommen. Er schrieb am 16. Mai im Erstlingsposting seines neuen Blogs (siehe rechts unter "Freunde“) folgende Sätze:
"Manche spektakuläre Dummheit (inklusive meine eigene) erstaunt mich zwar. Doch staunen kann ich darüber nicht.“
Daraufhin fügte er hinzu, dass der Sprachbloggeur wahrscheinlich 200 KB Text über den semantischen Unterschied zwischen "staunen“ und "erstaunen“ produzieren könnte.
In der Tat ein kniffliges Wörtchenpaar. Und ich gestehe: Als ich obige Herausforderung entdeckte, staunte ich nicht schlecht und fragte mich, ob ich überhaupt etwas zu diesem Thema produzieren könnte, das erstaunen würde.
Fangen wir also mit einer Entmystifizierung an: Die Vokabel "staunen“ ist eigentlich ein Spätaussiedler aus der Schweiz, wo sie einst "stunen“ hieß, bevor sie im Lauf des 18. Jahrhunderts in die deutsche Hochsprache eingewandert ist. Ursprünglich bedeutete sie "starr sein“. Manche Wortjäger leiten dieses "stunen“ vom französischen "étonner“ (sprich eh-tonn-eh) ab, das "erstaunen“ bedeutet. "Étonner“ soll nach dieser Erklärung aus einem lateinischen "extonare“ stammen.
Die Autoren des Grimm’schen Wörterbuchs – woher ich obige Etymologie habe – sind allerdings von der "étonner“-Theorie nicht ganz überzeugt. Die Erklärungen sind sehr langwierig, und ich werde sie hier nicht erörtern. Es genügt zu sagen, dass auch ich zu den Skeptikern zähle. Dafür möchte ich Ihnen als Weltnovum hier eine eigene, aus dem Ärmel geschüttete Etymologie unterbreiten. Ich bin nämlich der Meinung, dass "staunen“ ein Abkömmling von "Stein“ ist. Immerhin: Wenn man staunt bzw. "stunt“, steht man wie "versteinert“ da.
Im selbigen Grimm’schen Wörterbuch unter dem Stichwort "erstaunen“ bin ich womöglich auf einen kleinen Hinweis für die Richtigkeit meiner Theorie gestoßen: ein Zitat vom heute leider vergessenen Dichter, Historiker und Philosophen Johannes Micraelius (1597-1658). Er hat das Wort "erstaunen“ bereits im 17. Jahrhundert in der deutschen Hochsprache verwendet – also längst bevor das Schweizer "staunen“ die deutschen Leser ins Staunen brachte. Das Wort steht im folgenden von ihm verfassten Nebensatz: "dasz ihme alsfort die hand erstaunet und erstarret ist.“ Wenn Sie mich fragen, wird hier erzählt, dass besagte Hand versteinerte.
Doch wenn ich schon dabei bin, Gedanken über den Unterschied zwischen "staunen“ und "erstaunen“ zu machen, darf ich das Wichtigste nicht außer Acht lassen: über die kleine Vorsilbe "er-“ zu erzählen. Denn sie allein macht letztendlich aus einem "Staunen“ ein "Erstaunen“. Glauben Sie mir: Dieses "er-“ hat es wirklich in sich. Man könnte fast sagen, es ist eine Art Vitamintablette für müde Verben. Denn kaum hängt man diese unscheinbare Vorsilbe einem Zeitwort an, springt das Verb mit erneuter, intensivierter Energie ins Leben. Aus einem "bringen“ wird ein "erbringen“. Ein "finden“ rappelt sich zu einem "erfinden“ auf. Wer "staunt“, wird auf einmal zu einem der "erstaunt“.
Wenn ich Ihnen verrate, woher dieses "er-“ stammt, werden Sie gleich verstehen, warum es in der Lage ist, zahme Verben in wilde Zeitwörter zu verwandeln. Das "er-“ ist nämlich eine altertümliche Form des allgemein bekannten "aus“. Und das "aus“ führt, wie jeder weiß, alles zu seinem bitteren oder manchmal auch süßen Ende. Das "Erarbeiten“ schwebt adlerartig über dem "Arbeiten“. Das "Erschöpfen“ ist nichts weniger als das Ende des "Schöpfens“.
Nebenbei: Ein "Urteil“ ist eigentlich ein "Erteil“. Beim Urteil wird also "ausgeteilt“.
Ich habe mich aber heute entschlossen, Ihnen keine Doktorarbeit zu ersinnen. Sie haben ohnehin bereits verstanden, wie das Staunen zum Erstaunen führt. Wenden Sie sich nun Thomas Vašek zu. Er kann Ihnen in seinem Blog sicherlich noch 200 KB Text über dieses Thema weiter erzählen.
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