„Schatz, reichst du mir bitte das ‚Wohlfühlen‘.“
„Was für Fühlen, bitte?“
„Den SZ-Sonderteil, der neben dir auf dem Sofatisch liegt. Der mit der hübschen Badenixe auf dem Titelblatt. Ist sie nicht süß? So sah ich aus, als du mich heiratetest. Kannst du dich noch erinnern?“
„Hier, dein Heft.“
„Sieht sie nicht aus wie ich damals?“
„Ja, ja.“
„Ich merke schon. Du bist mit den Gedanken ganz wo anders.“
„Bitte, Mäuschen, wir können später reden. Okay? Ich will jetzt meine neue Spielkonsole ausprobieren, weißt du. So was Geiles hast du noch nie gesehen. Schau: Ich setze die Virtual-Reality-Brille auf die Augen, den Kopfhörer über die Ohren, halte die Griffe fest und zack! Bin ich ganz woanders.“
„Wo dann? Hallo? Hörst du mich nicht? Nein, der hört mich nicht mehr. Ach, Männer, immer müssen sie spielen. Sie sind wie Kinder.“ (Sie blättert in ihrem „Wohlfühlen“ und vergisst die Welt).
Aber wo ist ihr Schatz? Antwort: Er ist, um einen Vertreter der Branche zu zitieren, den ich im Fernsehen auf der Gamescom-Messe sprechen hörte, „abgekoppelt von der Wirklichkeit“.
Noch präziser: Er befindet sich momentan auf einer Anhöhe, die in der Abenddämmerung dunkelgrün leuchtet. Unten wütet der Krieg. Zwei Armeen, die der Guten und die der Bösen, liefern sich eine heftige Schlacht.
Der Schatz gehört zu der obersten Heeresleitung der Guten und ist eigens für die Kampfstrategie zuständig. Was er befiehlt, wird gleichsam per Fingerdruck ausgeführt.
Hier wird keine Schlacht ausgeführt wie bei einem uns bekannten heutigen Krieg. Das, was hier auf dem Schlachtfeld geschieht, mutet vielmehr altertümlich an. Als kämpften römische Soldaten gegen Barbaren. Wir befinden uns aber in der Zukunft. Die Soldaten, zumindest die guten, tragen eine goldfarbige Rüstung und fliegen durch die Luft – scheinbar mittels Willenskraft. Denn nirgends erblickt man einen Antriebsmotor, der sie befördert. Im Übrigen sind alle Krieger maskiert wie Gladiatoren. Ihre Waffen scheinen eine Art Laserpistole zu sein. Gelbe Strahlen blitzen im Zwielicht.
Im Moment sieht es aber so aus, als würden die Barbaren die Oberhand gewinnen. Kann es sein, dass in dieser unbekannten Welt das Böse übers Gute siegen wird? Das will der Schatz natürlich nicht zulassen. Aber was tun?
„General, es ist Zeit“, sagt ein maskierter Offizier, der neben ihm steht. Auch dieser trägt eine Rüstung, sein Gesicht steckt unter einer Maske. „Sie müssen unbedingt den Würgeengel aufrufen.“
„Den Würgeengel? Aber wie mache ich das?“ fragt der Schatz. Es irritiert ihn, dass er seine Unerfahrenheit preisgegeben hat.
Ohnehin eine dumme Frage. Er schaut nach links, oben im grauen Himmel, und schon erspäht er in der Ferne ein fahles Licht. Instinktiv drückt er mit der linken Hand auf den Griff. Und siehe da! Neben ihm steht schon eine große, schattige Figur, sie ist in einem dunklen Gewand eingehüllt, das Gesicht verschleiert.
„Du hast mich gerufen?“ sagt der Würgeengel.
„O Würgeengel, der Feind gewinnt allmählich die Oberhand, und ich fürchte bereits das Schlimmste.“
„Das Schlimmste? Was ist dir denn schlimmer“, fragt der Würgeengel, „die Niederlage deines Heeres oder eine Reise in die dunkle Welt?“
Die anderen Offiziere der Heeresleitung richten ihre Aufmerksamkeit auf den Schatz und warten neugierig auf seine Antwort. Es ist klar, wie er zu entscheiden hat. „Schlimmer ist die Niederlage meines Heeres“, sagt er pflichtbewusst, und gleich bereut er, dass er diesen Satz über die Lippen gebracht hat. Denn unversehens wirft der Würgeengel sein Gewand um den Schatz, und der Schatz erlebt auf einmal eine Finsternis, die schwärzer ist, als die schwärzeste Nacht seines Lebens. „Geil, diese Brille“, denkt er.
Aber wo ist er jetzt? Das Spiel scheint aus zu sein, er sieht jedenfalls nichts und weiß nicht, wie er diese Finsternis, in der er sich befindet, entkommen soll. Er drückt auf die Griffe. Sie scheinen blockiert zu sein. „Würgeengel?“, ruft er. Doch keine Antwort. „Mäuschen?“ ruft er. Keine Antwort. „Wo bin ich?“ fragt der Schatz. Wieder keine Antwort.
Auch ich habe keine Antwort auf diese letzte Frage.
Add new comment