Nun verstehe ich, wie es ist, ein Chinese zu sein.
Kein Chinese wie damals, als Konfuzius noch lebte, und erst recht kein Chinese wie unter Mao. Nein, ich meine einen heutigen Chinesen, einen Bewohner des Landes der Mitte („tschung kuo“), eine Einzelperson, einen von einer Milliarde plus.
Es ist 20h. Ich schalte den Fernseher („dian-schi-dschi“) ein, neben mir auf dem Sofa sitzen meine Frau, mein Kind und vielleicht meine Schwiegermutter oder auch meine Mutter. Wir gucken „Das glückliche Leben von Dschin Tai-lang“ an. Zum Schießen lustig.
Wird es „Lang“, so heißt er en famille, gelingen, auch diesmal den Haussegen wieder zurecht zu biegen? Seine hübsche Frau (verdammt nochmal, wie heißt sie wieder?), seine Eltern und seine Schwiegereltern haben es in sich: schrullig, niederträchtig, dumm, ungewollt komisch usw. Es gibt immer genügend Gründe für Missverständnisse und für heftiges Zanken. Dem liebenswürdigen Lang gelingt es letztendlich stets, alles einigermaßen glatt zu bügeln.
Ja, die Sendung ist zum Piepen lustig. Und man kann sich am nächsten Tag mit Freunden, Bekannten, Nachbarn und Kollegen stundenlang darüber unterhalten, während man der nächsten Folge entgegenfiebert.
„Lang“ ist natürlich nicht unser einziges Thema. Es gibt vieles, worüber wir uns unterhalten. Zum Beispiel, die Lage nach den jüngsten Überschwemmungen (ja, eine Katastrophe!), die Geburt eines putzigen Pandas (stand auf Seite eins in der Zeitung), oder die Terroristen in Xinjiang (zu Deutsch: do, wo san die Uiguren). Manchmal surfen wir dank Baidu das Netz (ohne auf dekadente Begriffe wie „Porno“, „Tibetaner“ usw. stoßen zu müssen).
Mit wenigen Ausnahmen findet man im Netz ALLES, was das Herz begehrt. Man kann auch groß einkaufen oder sogar alte Folgen des „Glücklichen Lebens von Dschin Tai-lang“ glotzen. Ich schwöre: Man kann mühelos Stunden im Internet verbringen – als wäre man im Land der Träume. Doch das ist in Ordnung – solange man nicht für die großen Schulprüfungen büffeln muss. Die haben es in sich.
Ja, so stelle ich mir es vor, ein Chinese zu sein. Man arbeitet schwer, will seine Freizeit genießen, macht auch Urlaub – manchmal in Europa oder in San Francisco. Und man ist heilfroh, wenn korrupte Politiker und krumme Geschäftsleute im Gefängnis landen oder einen Kopf kleiner gemacht werden…
Hallo? Wieso komme ich heute auf die Chinesen?
Schon wieder Zeit, meine Ignoranz preiszugeben. Wissen Sie: Gestern erfuhr ich von meinem ältesten Sohn, der uns besuchte, über „Reddit“. „‚Reddit‘? Was ist das?“ fragte ich. Er erklärte es mir kurz, aber ich verstand die Chose trotzdem nicht ganz.
Mit Sicherheit wissen die Meisten meiner Leser im Gegensatz zu mir längst Bescheid. Vielleicht ist mein Problem, dass ich kein Facebook habe und noch nie twitterte.
Gestern verbrachte ich also mindestens zehn Minuten auf „Reddit“. Außerdem konsumierte ich in Wikipedia einen langen Artikel zum Thema.
Es scheint eine Seite zu sein, wo jeder eine Nachricht oder einen Link zu einer YouTube-Seite (bzw. einer anderen Seite) hinterlassen oder eine Frage stellen kann. Wenn andere diese Nachricht oder Frage interessant finden, nimmt besagtes „Reddit“ einen höheren Rang auf der „Reddit“-Hierarchie ein.
Wenn dann die Kommentare auf ein „Reddit“ (man nennt sie „Subreddits“) die Gunst der Leser finden, steigen auch diese in der Hierarchie an Wert. Viele positive Reaktionen erhöhen das „Karma“ des „Reddit“-Erzeugers. Wenn die Reaktionen überweigend negativ sind, sink das „Karma“. Alles klar?
Nebenbei: Das Wort „reddit“ gilt als „Kofferwort“. Das heißt: Es besteht aus zwei Wörtern die zu einem verschmolzen. In diesem Fall das englische „edit“ (redigieren) und „read it“ (ich hab’s gelesen). „Smog“ („smoke“ und „fog“) ist ebenfalls ein „Kofferwort“.
Ach und noch etwas: „Reddit“ scheint sehr populär zu sein und generiert auch viel Geld – hauptsächlich durch Werbung. Inzwischen wird es aus idealistischen Gründen mittels „open-source“- Software betrieben.
Nach 10 Minuten im „Reddit“-Land wähnte ich mich in China. Daher die obige Fantasie. Also, liebe Lesende, willkommen im Informationszeitalter. Und lassen Sie sich schön unterhalten! Gell?
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