Es hätte schlimm enden können. Sehr schlimm, und dann wäre dieser heute ein ganz anderer Text geworden.
Das Unglück taucht immer auf wie aus dem nichts.
Ich stand vor der Papiertonne mit meinem Papiermüll und war dabei Kartonfetzen, alte Eierschachteln, Zeitungswerbung usw. durch den Schlitz im Deckel der blauen Papiertonne zu befördern. Dann ist es passiert…flutsch, gefolgt von einem leisen „klack-klack-klack-klick-klack-rumpa-rumpa“ und dann Stille. Große Stille.
Was ist geschehen? Meine Ringe, d.h. mein Ehering und der Ehering meines Vaters, die ich beide am Ringfinger der linken Hand trage, flutschten widerstandslos vom Finger ab und verschwanden in der Papiertonne.
So einen Augenblick muss man erst verdauen. Man merkt, wie sehr man manchmal an kleinen Dingen hängt, Dinge, die einen idealen Wert haben.
Was tat ich nach dem ersten Schock? Vorsichtig öffnete ich den großen, schweren blauen Deckel der Tonne und begann im Chaos des Papiermülls nach meinen Ringen zu suchen. Bergungsarbeit halt. Man fängt sachte an, in der Hoffnung, dass das Gesuchte nicht allzu weit in den Tunneln, Höhlen und Kanälen des Papiergewühls verschwunden ist.
Ich versetzte Kartonfetzen, entsorgte Taschenbücher, Toilettenpapierrollen, die jemand nicht mehr haben wollte, alte Kuverts, Werbeblätter, Verpackungen usw., schob sie hin und her, in der Hoffnung dass die Ringe nicht allzu weit weggerollt waren.
Und siehe! Beginner’s luck. Ein Ring trat schnell in Erscheinung: der Ehering meines Vaters. Plötzlich war er da, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. Er lag auf einer papiernen Unterlage, als würde er einen Mittagsschlaf halten. Ich griff vorsichtig nach ihm und holte ihn erleichtert aus dem Papierchaos. Vielleicht ist auch mein Ehering in der Nähe, sann ich und beseitigte wieder sachte neue Papierebenen, die ich dann um mich auf den Boden herunterwarf. Vergebliche Liebesmühe. Er war nirgends aufzutreiben. Nun grub ich tiefer in der Tonne, so tief, dass ich fast den Tonnenboden erreichte, und kaum mehr wegen der vielen Schatten und des schlechten Lichtes da unten etwas klar hätte sehen können. Zusätzlich erschwerend war die Tatsache, dass ich bisher den schweren blauen Tonnendeckel auf meinem Kopf balanciert hatte, denn es gab keine andere Möglichkeit, den Deckel in offener Stellung zu halten.
Mir war jetzt klar: Um weiter zu kommen, würde ich Werkzeug brauchen. Ich kehrte in meine Wohnung zurück, legte meines Vaters Ring in die Sicherheit meines Schreibtisches nieder und holte eine Taschenlampe und zwei Besen. Der eine sollte als Stütze dienen, um den schweren blauen Deckel offen zu halten. Mit dem zweiten wollte ich im Müll wühlen.
Ab in die Arbeit. Stück für Stück entfernte ich nun das Altpapier aus der Tonne. Bald stand ich knöcheltief im Papiermüll. Doch keine Spur vom Ring. Vielmehr verspürte ich die wachsende Verzweiflung. Umso mehr war ich entschlossen, wenn nötig, den ganzen Inhalt der Tonne auszuleeren. Ja, die Tonne war groß, die Menge des Papiermülls schien schier endlos, und der Ring war klein. Trotzdem wollte ich nicht resignieren. Ich wühlte weiter und beleuchtete die sichtbar gemachten Oberflächen und Höhlen mit meiner Taschenlampe.
Als ich ein großes, sperriges Stück Kartonage aus der Tonne zu entfernen beabsichtigte, erspähte ich an der hinteren Wand der Tonne einen Halbkreis aus Metall. Mein Ring? Oder vielleicht, wie ich vermutete, lediglich eine Niete, die in der Tonnenwand zu Zwecken der Lüftung eingestanzt war. Das wollte ich jetzt näher untersuchen und benutzte dafür den zweiten Besen, genauer gesagt die Kunststofföse an der Spitze des Besenstiels als Sonde. Ich langte mit der Öse direkt in die Niete und hielt sie fest gegen die Tonnenwand. Es war aber keine Niete. Es war tatsächlich mein Ehering. Nicht zu früh sich freuen, mahnte ich mich trotzdem. Die Situation war immer noch sehr prekär. Eine falsche Bewegung…
Sachte verschob ich den Ring, den ich mit der Öse gefangen hielt, entlang die Tonnenwand... bis ich ihn mit meiner Hand ergreifen konnte. Gerettet. Erleichterung.
Als Nächstes räumte den Papiermüll, der sich um mich aufgestapelt hatte, wieder in die Tonne, nahm meine zwei Besen, meine Taschenlampe und meinen Ring und kehrte in meine Wohnung zurück. Nein. Kein Gefühl des Triumphs. Ein Gefühl der großen Dankbarkeit.
Denn die kleinen Dinge können auch große Dinge sein.
Ich bin dankbar, dass ich nicht der Erfinder der „Enkelkindmasche“ (siehe Spiegel-online) bin. Ich bin dankbar, dass ich keine Kinderprostituierten weltweit vermittele. Ich bin dankbar, dass ich keine Daten aus dem Netz entwende. Ich bin dankbar, dass ich meine zwei Ringe wiederhabe, und dass ich Ihnen heute eine frohe Botschaft fürs neue Jahr bringen kann, ohne von eigenem Verlust bedruckt zu sein.
Ich bin dankbar, dass ich Sie als Leser habe, und ich bin dankbar, dass ich Freude habe, für Sie diese Glossen zu schreiben.
Ein gutes, gesundes, erfolgreiches 2014 wünscht Ihnen Ihr Sprachbloggeur.
PS: Das Verlieren-und- Wiederfinden ist eine altbewährte Handlungstechnik der Weltliteratur. Manchmal sind es auch Menschen, oft Geliebte, die sich verlieren und wiederfinden. Nicht von ungefähr ist diese Technik beliebt. Wir freuen uns immer, wenn das, was dem Anschein nach verlorengegangen ist, doch wieder in Erscheinung tritt.
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