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Eine intime Meditation über den Sprachwandel

Menschen haben ein kurzes Gedächtnis.

Mein Gedächtnis ist so kurz, dass ich bereits vergessen habe, warum ich gestern früh (oder war es schon vorgestern am Abend?) obigen Satz fieberhaft auf einen Schmierzettel gekritzelt habe.

Egal. Der Satz bringt mich trotzdem auf gewisse Gedanken. Ich behaupte nämlich, dass die meisten Menschen, wenn sie im Alltag von der "Vergangenheit“ reden, nur Ereignisse meinen, die bis vor zweihundert oder höchstens zweihundertundfünfzig Jahren stattgefunden haben. Alles, was vor dieser Zeitspanne passiert ist, gehört nicht mehr zur Vergangenheit, sondern zur Antike. Mehr Vergangenheit als etwa zweihundert Jahre können wir gedanklich einfach nicht verarbeiten.

Was bedeuten zweihundert Jahre? Beispiel: Mein Großvater wurde 1879 geboren. Ich schätze also, dass sein Großvater vielleicht zwischen 1810 und 1820 auf die Welt gekommen ist. In anderen Familien sind die Verwandtschaftsverhältnisse wohl anders – vor allem, wenn Sie zufällig viel jünger sind als ich. Aber irgendwie bekommt man mit Hilfe der Ahnen eine Vorstellung von der nachvollziehbaren Vorzeit.

Vielleicht fragen Sie sich schon jetzt, was dieses Gelaber mit Sprache zu tun hat? Kurzum: Es geht um den Sprachwandel. Außer in der schnelllebigen Jugendsprache nehmen wir ihn nämlich nur selten wahr. Stellen Sie sich vor: Nur eine Generation bevor der Großvater meines Großvaters das Licht des Tages erblickte, hatte Goethe aus Neapel Folgendes in einem Brief an seinem Freund Herder geschrieben: "Das Meer und die Inseln haben mir Genuß und Leiden gegeben…Laßt mich jedes Detail bis zu meiner Wiederkehr aufsparen. Auch ist hier in Neapel kein Besinnens…“

Auch wenn der Wortschatz uns heute keine Schwierigkeiten bereitet und der Inhalt verständlich ist, stellt man fest, dass wir das gleiche ganz anders ausgedrückt hätten. "Ich erspare Dir die Details, bis ich zurückkomme. Ich hab in Neapel keine Zeit nachzudenken“, würde ich heute meinem Duzfreund Herder mailen.

"Was Mindernickels Charakter betrifft, so ist es sehr schwer, darüber zu urteilen; der folgende Vorfall scheint zugunsten desselben zu sprechen“, schrieb Thomas Mann in 1898. Normales Deutsch, aber wer möchte noch freiwillig "zugunsten desselben“ schreiben?

Und noch eine Gangschaltung: die Sprache von Grimmelshausen vom "abenteuerlichen Simplizissimus“ aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. "Da fienge ich an mit meiner Sackpfeifen so gut Geschirr zu machen, daß man den Krotten im Krautgarten damit hätte vergeben mögen, also daß ich vor dem Wolf, welcher mir stetig im Sinn lag, mich sicher genug zu sein bedunkte…“ Alles klar? So drückte sich ein Deutscher – auf spielerischer Art, denn dieser Text soll ein bisschen lustig wirken – vor etwa 360 Jahren aus. Man erkennt freilich die meisten, wenn nicht alle Wörter (der "Krotten“ ist wohl die "Kröte“). Doch Willkommen in der Antike. Wir befinden uns hier schon jenseits der Vergangenheit. Das Deutsch wird dem Deutschen allmählich zur Fremdsprache.

Sinnlos, diese Zeitreise noch weiter im Rückwärtsgang fortzuführen. Sie verstehen schon, wohin der Wagen rollt. Den Sprachwandel als Theorie kennt jeder. Ein Blick in die Beispiele wandelt jede Theorie in harte Fakten um. Und nun wenden Sie Ihren Blick in die Zukunft, zu den Enkeln Ihrer Enkelkindern oder zu deren Enkelkindern vielleicht. Man wird über Ihre komische altmodische Sprache nur noch staunen.

Wie sagte es Einstein so schön? "Alles ist relativ.“

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