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Ein Untoter über ein Unwort

Die Untoten schlafen, wenn alle wach sind, sind wachsam, wenn die anderen schlafen.

Dieser Unterschied erklärt, weshalb ich erst jetzt dazu komme, über Jörg Kachelmanns Formulierung „Opfer-Abo“ zu schreiben, eine Formulierung, für die er schon vor zwei Wochen als Schöpfer des Unwortes des Jahres 2012 ausgezeichnet wurde.

Zugegeben: Ich verschlafe viele Dinge. Doch zufällig weiß ich, dass Kachelmann ein Wetterfrosch ist, dass er über eine fetzige Sprache verfügt und dass sein Intimleben eine Zeitlang in den Zeitungen für gestiegene Auflagen sorgte. Verlangen Sie von mir bitte keine sonstigen Details. Wir Untoten müssen uns besonders anstrengen, um mit den endlosen Ergüssen der Unterhaltungsindustrie standzuhalten. Denn die Events dieser Industrie finden meistens statt, während wir schlafen.

Immerhin habe ich zufällig Kachelmanns eigene getwitterte Reaktion auf seine Auszeichnung mitbekommen. "Leider ist es die Wahrheit, die manchmal politisch unkorrekt ist", hatte er geschrieben. Mir kam der Satz, ganz ehrlich, im Gegensatz zu seiner witzigen Formulierung „Opfer-Abo“ etwas larmoyant vor. Für sein „Opfer-Abo“ sehe ich allerdings eine lange und produktive Zukunft.

Hier ein Beispiel, wie man diesen Begriff in der Tagessprache künftig verwenden wird: „Hör doch bitte auf zu jammern. Du hast kein Opfer-Abo.“ Klingt nett, nicht wahr? Wäre für fast jede mögliche Situation passend. Männer, Frauen, Interessengruppen, politische Parteien, ja, sogar Nationen und Religionen könnte man anprangern, weil sie sich verhalten, als hätten sie ein Opfer-Abo.

Praktisch, nicht wahr? Ohne praktische Begriffe, kann man ohnedies aufhören zu reden.

Zufällig schaltete ich mein altes und wenig gebrauchtes Fernsehgerät an dem Tag ein, als über Kachelmanns Ehrung taufrisch in den Nachrichten berichtet wurde. Eine sehr ernst wirkende Dame las einen längeren Text vor und erläuterte, warum Kachelmann mit dem Preis fürs Unwort des Jahres 2012 ausgezeichnet wurde. Ich kann mich nicht mehr genau an den Wortlaut erinnern, lediglich, dass die Dame sehr abschätzig über Kachelmanns „Opfer-Abo“ sprach. Sie meinte, der Begriff sei ausgesprochen frauenfeindlich und verdiente unbedingt den Titel „Unwort des Jahres“.

Offensichtlich hatte Kachelmann seine Formulierung zum ersten Mal in einem Interview verwendet und auf eine bestimmte Situation und eine bestimmte Person bezogen. Das kommt bei neuen Wörtern öfters vor. Doch solche Wörter entwickeln dann ein Eigenleben und werden schnell ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissen. Dann sagt man über sie, sie seien nun im „übertragenen Sinn“ gebraucht worden. Das ist, zum Beispiel, der Fall, wenn ich „in die Röhre schaue“ oder einen für „vogelfrei“ erkläre. Oder?

So auch das „Opfer-Abo.“

Nebenbei: Wir Untoten haben gar keine „Opfer-Abos“. Das ist so, weil wir uns nie für Opfer halten.

Was nicht unbedingt bedeutet, dass es für Untote keine Unwörter gibt. Nein, im Gegenteil.

Zum Beispiel, „Missbrauchsskandal“. Das Wort habe ich zufällig in einer Zeitung gelesen. „Missbrauchsskandal“? fragte ich mich. Was soll das bedeuten? Ich mochte den Begriff auf Anhieb nicht, konnte aber meine Ablehnung lange nicht erklären, bis ich endlich ein Aha-Erlebnis hatte: Ein „Missbrauch“, so dachte ich, ist allein schon ein „Skandal“. Ein Begriff wie „Missbrauchsskandal“ kam mir als Tautologie vor.

Dennoch wollte ich wissen, was es bedeuten könnte. Offensichtlich bezieht sich besagter Skandal auf ein skandalöses Benehmen. Insofern ist ein „Missbrauchsskandal“ ein Skandal über einen Skandal.

Das klingt ziemlich kompliziert, nicht wahr? So habe ich mir überlegt, ob man den gleichen Inhalt möglicherweise anders ausdrücken könnte. Mir fiel leider nichts Passendes ein. Vielleicht Ihnen. Mein Vorschlag: Wie wäre es, wenn „Missbrauchsskandal“ zum Unwort des Jahres 2013 auserkoren wird?

Falls es so wird, werde ich womöglich nichts darüber erfahren. Passiert mir oft. Wir Untoten schlafen, wie gesagt, wenn andere wach sind. Zu dumm, nicht wahr?

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