Dass die Welt grausam ist, weiß ich seit meinem zwölften Lebensjahr. Ich hatte in diesem Alter eine Arbeit bei einer Apotheke als Lieferjunge, belieferte die ganze Gegend mit Medikamenten und diversen Salben. Manchmal radelte ich zu den Kunden – auch nachdem mein Fahrrad einen Plattfuß bekam. Ich wusste nämlich nicht, dass man ein Platten reparieren kann. Das zähe Strampeln machte mir aber nichts aus.
Das war freilich nicht die Grausamkeit, von der hier die Rede sein soll. Die geschah eines Tages – ganz überraschend – , als ich eine französische Familie, die ums Eck von der Apotheke wohnte, eine Bestellung vorbeibringen sollte.
Damals hatte ich in der Schule zwei Jahre Französisch mit Fleiß und Eifer – schon gelernt. Ja, die Liebe zu Sprache zeigte sich bei mir früh. Die Vorstellung, eine richtige Fremdsprache zu sprechen, fand ich aufregend. Es war zwar nur Schulfranzösisch, und ich konnte auch die einfachsten Dinge, etwa: „Dein Hosentürl ist offen“ oder „Das Omelett schmeckt wie aufgewärmte Kotze“ usw., noch nicht sagen; aber immerhin.
Sprache bedeutet immer, neue Welten öffnen und erforschen. Dazu braucht man aber Zeit.
Ich liebte diese Fremdsprache aber, nicht nur weil sie die Sprache von Maurice Chevalier (kennt man ihn noch?) und Charles de Gaulle war, sondern die Sprache von „Parie“, von der Liebe, von der Hochkultur und von den Helden der Résistance.
Ich stand vor der Tür und klingelte. Ich vernahm eine Stimme hinter der Tür, die „Yes?“ oder „Oui?“ murmelte. Das weiß ich nicht mehr. Ich antwortete mit dem Namen der Apotheke und hörte, wie Menschen miteinander parlierten. Nun hatte ich die Idee, dass auch ich in dieser Situation Französisch reden könnte, d.h., ein wahrhaftiges Gespräch in der Fremdsprache führen. Die Tür ging auf. Eine unfreundlich dreinschauende Frau stand da.
Bonjour, Madame!“, posaunte ich stolz. „Ici votres médicaments. Vous payez trois dollars et trente-cinq cents.“ So ungefähr dürfte ich es gesagt haben. Immerhin: Es war mein allererster Versuch, mich in einer Fremdsprache zu verständigen.
Zu einem Gespräch kam es aber nicht. Der unfreundliche Mensch, der mir gegenüberstand, antwortete etwas, und zwar äußerst knapp auf akzentuiertes Englisch und bezahlte – ohne mir ein Trinkgeld zu geben. Kein „merci bien“, nicht einmal ein „thank you“. Die Madame nahm die Tüte aus meiner Hand und ließ die Tür einfach wieder zufallen. Es war zwar kein Zuknallen, aber so kam es meinem unschuldigen Herzen dennoch vor. Die Enttäuschung stand mir im Gesicht.
Mir fiel dieses lang verschüttete Ereignis wieder ein, als wir, meine Frau und ich, neulich in Paris waren. Mittlerweile kann ich übrigens problemlos auf Französisch sagen, dass ein Omelett wie aufgewärmte Kotze schmeckt (ça a un goût de dégueulis réchauffée) oder „dein Hosentürl ist offen“ (ton fermeture est ouvert).
Wir waren in der Pinacothèque de Paris, um eine Hiroshige-Ausstellung zu besuchen. Ich fragte eine Museumsmitarbeiterin – auf Französisch – , wie es weiter geht. Die Ausstellungsräume waren nämlich labyrinthartig und auf verschiedenen Ebenen eingeteilt. Die junge Dame antwortete auf Englisch: „Ju aw tu go hupp.“ Das heißt: You have to go up. Sie sprach halt mit Akzent. Es hat mich aber irritiert, dass sie Englisch geantwortet hatte. Ja. Die alte Wunde ging wieder auf.
War es eine Wiederholung meines Jugendtraumas? Das habe ich zunächst gemeint. Doch dann überlegte ich, ob ich die Situation vielleicht verkehrt herum interpretieren sollte. Das heißt: Hätte ich ihr, zum Beispiel, eine Freude machen können, wenn ich Englisch geantwortet hätte?
Was tat ich aber?
Ich sagte: „Merci“, und ging kaltschnäuzig weiter.
In dem Augenblick war mir klar, dass ich eine Glosse mit dem Titel „Sprache und Macht“ schreiben musste, um jene Grauzone zu erforschen, die entsteht, wenn zwei Menschen, die verschiedene Muttersprache haben, aufeinander stoßen und man sich für eine gemeinsame Sprache entscheiden muss.
So einfach ist so eine solche Situation nämlich nicht. Es kommt viel öfters als man denkt zu einem Duellieren mit Worten. Man will sich verständigen, findet aber keine Sprache. Komisch, nicht wahr?
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