Wissen Sie den Unterschied zwischen einer Lüge und einer Liege?
Für manche gibt es keinen. Zum Beispiel für Schlesier und Sudetendeutsche. Nein, das meine ich nicht als charakterliche Verleumdung. Auch Bayer unterscheiden nicht ganz. Englisch Sprechende erst recht nicht. Wie eineiige Zwillinge stehen die zwei Wörter „to lie“ und „to lie“ da – wie „tweedle-dee and tweedle-dum“, sagen wir.
Sprachhistoriker haben viel über „liegen“ und „lügen“ zu erzählen. Ersteres hat, wie es sich herausstellt, viele Verwandte in den verschiedensten indogermanischen Sprachen, ist sogar mit dem lateinischen „lectus“, also „Bett“, verwandt, was einleuchtend ist. Die Lüge hat mit Ausnahme eines einzigen altkirchenslawischen Verwandten – dies habe ich in Kluge („Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“) gelesen – eine unbekannte Vergangenheit, hat also gewissermaßen kurze Beine.
Dies alles nur als erläuternder Hintergrund, um über eine persönliche Lüge zu erzählen: die Geschichte von Georges le Grèc. Nein, hier keine lästernde Geschichte über die Rolle Griechenlands in der EU. Wir schreiben das Jahr 1975. Ich bin ein junger Mann und lebe in einer kleinen Wohnung am siebten Stock eines Hauses an der Avenue Georges Bernanos in Paris gleich gegenüber vom Park de L’Observatoire, wo vor 200 Jahren Mme Guérin mit Victor dem jungenWilden von Aveyron, damals eine Art Weltsensation, spazieren ging.
Ich habe wenig Geld und brauche dringend Arbeit, sonst kann ich in Paris nicht viel länger bleiben. Bekannte empfehlen, dass ich mich mit einem gewissen Amerikaner (seinen Namen habe ich vergessen) kurzschließe. Er arbeite bei einer Organisation (welche habe ich vergessen)und wisse viel. Ich verabrede mich mit ihm. Er ist sympathisch, wirklich bestens vernetzt in Paris und sehr zuvorkommend. Weil ich aber keine Arbeitserlaubnis habe, sagt er, könne er mir leider nicht weiterhelfen. Er kenne allerdings einen gewissen Georges le Grèc. Vielleicht habe er eine Idee.
Ich bekomme die Telefonnummer des Georges le Grèc und rufe ihn an. Wir einigen uns, am Abend im Park de L’Observatoire – meine Idee – uns zu treffen.
Anders als zur Zeit von Victor ist dieser Park heute nur eine kleine grüne Insel mit ein paar Bänken und liegt schräg neben dem großen Jardin de Luxembourg.
Es ist Abend. Ich sitze auf einer Bank unter einer Laterne und warte. Nun tritt George le Grèc in Erscheinung. Er ist ein bulliger Mensch, nicht besonders groß, mit grauem Bürstenschnitt und Schnurbart, wirkt auf mich wie ein alter Matrose. Er reicht mir die pummelige Hand und setzt sich neben mich.
Wir reden eine gute Stunde. Er habe sehr wohl Arbeit für mich, tut er bald kund: Ich müsse mich auf einem Fest bei einer sehr wohlhabenden Amerikanerin einschmeicheln, mit Charmeoffensive weichmachen sozusagen, damit sie Geld „für die Revolution“ spende.
„Nein, das kann ich nicht. So einer bin ich nicht“, sage ich Georges le Grèc.“
„Mais oui“, erwidert er. „Das kannst du sehr wohl. Du bist jung, bist intelligent, charmant. Natürlich kannst du das.“
Während der nächsten Stunde wiederholen wir diese zwei Sätze in hundert Variationen. Nach und nach fängt es an zu nieseln, aber ich beharre darauf, weiterhin im Park trotz des Wetters zu sitzen. Georges aber wird zunehmend ungehalten: „Sag mal. Wohnst du vielleicht in der Nähe? Mir wird es hier allmählich zu ungemütlich.“
Ich will nicht lügen und sage: „Ja. Da drüben wohne ich.“ Ich zeige auf das Haus.
„Gehen wir dann zu dir.“
Genau das will ich aber nicht. Allein in meiner Wohnung mit diesem bulligen Gauner? Denn das war er ganz bestimmt.
Aber nun die Lüge: „Ja, das können wir“, sage ich. „Aber hör zu: Wir müssen bei mir sehr leise sein. Sehr leise, verstehst du. Ich habe nämlich einen Mitbewohner, und er schläft, weil er Nachtschicht arbeitet. Wehe, wenn wir ihn wecken, dann tobt er wie ein Wilder. Das möchtest du nicht erleben.“ Natürlich hatte ich keinen Mitbewohner.
Georges steigt mit mir in den 7. Stock hinauf. Bereits an der Tür halte ich den Finger an den Lippen, schhhh, und wispere: „Bitte sehr leise sein.“ Ich schaue sogar ins Schlafzimmer, wo mein Mitbewohner schläft und mache dann die Tür wieder zu. Schhhh.
Georges le Grèc gibt sich große Mühe, leise zu sein. Wir flüstern noch etwa fünf Minuten über die reiche Amerikanerin. Doch bald wird es ihm klar, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. „Ich gehe“, sagt er. „Ich habe noch einen Termin. Sag mal: Hast du vielleicht zehn Franc für mich?“
Ich gebe ihm hastig das Geld – heute etwa fünf Euro, und er geht.
Wäre etwas passiert, wenn ich damals nicht gelogen hätte? Das weiß ich natürlich nicht. Ich fühlte mich aber in Gefahr, und wenn man in Gefahr ist, tut man das, was man muss. Nein, hier kein Kommentar über eine verlogene Welt. Ich fand jedenfalls keine Arbeit in Paris und kam deshalb bald nach München, wo ich arbeiten durfte. Nur wegen dieses Umzugs gibt es heute diese Glosse zu lesen.
Add new comment