Jeden Samstag, um Mittag, drehe ich eine Runde durch die Schwabinger Antiquariaten. Ich wühle durch die Bücherkisten und nehme die Bestseller vergangener Zeitalter in die Hand und denke über die Vergänglichkeit nach. Es ist eine Art Meditation.
Es sind aber nicht nur die ausrangierten Bestseller, die ich neugierig befingere. Ich suche stets nach Perlen, die ewige Gültigkeit besitzen, Werke wie Dantes Göttliche Komödie oder Asterix-Hefte. Manchmal bleibe ich bei den Sachbüchern hängen: „Die Geschichte der Bleistift“, „Zauber durch Spielkarten“, „Sein und Zeit“. Man kann nie wissen, wozu all das gut ist.
Doch wie lange werde ich diesen hehren Gottesdienst noch feiern können? Fakt ist: In München kämpfen manche Buchhandlungen – allen voran die Antiquariate – ums nackte Überleben.
Nein, es geht diesmal nicht um die E-Bücher als Ursache des Problems – zumindest noch nicht.
Auch nicht, dass Menschen immer weniger lesen. Die Ursache für diese bedrohliche Situation ist eine andere: Die Antiquariaten werden von Internetdienstleistern zusehends unterminiert. Im Netz bekommt man viele Bücher einfach billiger. Doch das wissen Sie schon. Ebenso wissen Sie, dass eine gewisse Webseite, die ich aus Gründen meines Schleichwerbungsverbotes, namenlos belasse, manche Bücher bisweilen für einen einzigen Cent anbietet. Dazu bezahlt der Kunde selbstverständlich eine Portopauschale. Die allein bringt den Gewinn.
„Man muss die Sache darwinistisch betrachten“, erklärte mir neulich der Besitzer eines meiner liebsten Antiquariate. „Wenn wir kein Nutzen mehr bringen, dann verschwinden wir halt. Für Sie oder für mich mutet das vielleicht traurig an. Man darf aber nicht zu sentimental werden.“
Soviel zum ersten Sterben. Das zweite folgt gleich.
Ein anderes meiner Lieblingsantiquariate ist in den letzten Monaten insbesondere in Bedrängnis geraten. Infolgedessen konnte man vom gesamten antiquarischen Sortiment zu erheblich reduzierten Preisen einkaufen. Auch ich habe kräftig zugeschlagen. Ihr Verlust , mein Gewinn.
Ich habe, zum Beispiel, einen hübschen Einband „Buch der Graphologie“ von Ludwig Kroeber-Keneth ergattert. Dieses 1968 erschiene Werk bietet einen informativen Streifzug durch die Kunst, Handschriften zu deuten, ohne den Anspruch, ein richtiges Lehrbuch zu sein.
Kroeber-Keneth – er lebte von 1899 bis 1980 – war ein echter Kenner. Als er dieses Buch verfasste, hatte er bereits vierzig Jahre als Graphologe gearbeitet – vor allem als Personalberater. Zur Erinnerung: Es war früher Gang und Gebe, dass jeder Bewerbung ein handschriftlicher Lebenslauf beigelegt wurde. Leute wie K.-K. konnten sich vor Aufträgen kaum retten.
Man müsse als Graphologe auf vieles achten, betont der Autor. Auch der Anlass für eine Schriftprobe sei nicht ohne Bedeutung. Wer, z.B., einen Bewerbungslebenslauf schreibe, bemühe sich, seine Handschrift besonders leserlich zu gestalten, auch wenn er normalerweise eine unleserliche Klaue hat. So eine Verstellung müsse dem Graphologen auffallen, ebenso das Schreibtempo, Originalität usw. Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen.
Was Kroeber-Keneth allerdings nicht wissen konnte: Nur wenige Jahre nach seinem Tod, sollten die meisten Menschen kaum mehr einen mit der Hand geschriebenen Satz erbringen.
Wer schreibt heute noch (vor allem unter jungen Menschen) mit der Hand – außer mal einen kurzen Brief an die Uroma (nicht aber unbedingt an die Omi, sie hat nämlich ein Smartphone schon)? Dank SMS-Mitteilungen, Emails, Facebook, Twitternachrichten, Online-Banking usw. braucht man kaum mehr ein Wörtchen mit der Stift zu formen. Nur wenn Sie mit der Plastikkarte bezahlen, ist eine Unterschrift – aber nur manchmal – erforderlich.
Soviel zum zweiten Sterben.
Nebenbei: Wer noch Sütterlin beherrscht, kann heute als Übersetzer ein hübsches Geld verdienen. Die Sütterlinkundigen sterben nämlich langsam aus. Das habe ich im Spiegel-Online gelesen.
Aber jetzt zum dritten Sterben. Nein, es werden nicht die Bücher sein. Auch nicht die Verlage. Die wird man umso dringender brauchen, um eine nötige schriftliche Norm zu gewährleisten.
Als Drittes stirbt der Glaube, dass all diese Veränderungen, die auf uns zukommen, schlecht sind. Au contraire. Sie bereichern. Nichts steht still – die Zeit erst recht nicht.
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