Das Thema ist schier unerschöpflich – jedenfalls mir. Für Muttersprachler hingegen gar kein Thema.
Ich werde es folgendermaßen formulieren: Ist „Waldjunge“ Ray im Wald oder in den Wald verschwunden?
Die Frage ist freilich eine rein grammatikalische. Über Ray habe ich schon letzte Woche ausführlich berichtet – und es gibt darüber kaum Neues zu sagen. Ray hat sich mittlerweile im Jugendheim in Berlin, wo er vorübergehend haust, bestens angepasst. Er schaut mit den anderen Jugendlichen fern, raucht Zigaretten, geht gerne unter die Dusche. Umso klarer wird es, dass es sich hier nicht um einen wilden Menschen handelt. Sein Englisch scheint übrigens britisch zu sein. Dennoch wollen manche einen kaum spürbaren fremden Akzent heraushören.
Aber zurück zum „Verschwinden“.
Abermals auf dieser Seite habe ich die Frage gestellt (und keine befriedende Antwort erhalten), warum sich der deutsche Muttersprachler, wenn einer verschwindet, die Frage: „wo“ und nicht „wohin“ er verschwunden ist, stellt.
„Tja, es ist einfach so“, sagte mir letzte Woche meine Nachbarin, Frau S.
„Ja, aber stellen Sie sich vor: Sie schauen in den Himmel. Sie sehen ein Flugzeug, das in Richtung einer Wolke fliegt. Und zack! Plötzlich ist das Flugzeug nicht mehr zu sehen. Ist es in die oder in den Wolken verschwunden?“
„In den Wolken, natürlich.“
„Aber warum? Versinkt ein Mensch im Wasser oder ins Wasser? Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um einen Ortswechsel.“
„Im Wasser.“
„Sagt man aber nicht, dass ein Flugzeug in die – und nicht in den – Wolken fliegt? Und springt ein Mensch ins Wasser und nicht im Wasser? Verschwinden, fliegen, versinken, springen – es handelt sich bei allen diesen Wörtern um einen Ortswechsel, eine Bewegung. Oder?“
„Ja, schon, aber…Ja! Ich kann mir vorstellen, dass einer sagen könnte: ‚Guck! Das Flugzeug! Es verschwindet! In die Wolken!’ Ja, das könnte man sagen.“
Frau S. hat sich sehr bemüht, mir ein Erfolgserlebnis zu gönnen. Letztlich konnte sie nicht über den eigenen sprachlichen Schatten springen.
Mit Sicherheit verstehen Sie meine Frust…
Aber halt! Ein Wunder ist geschehen! Stellen Sie sich vor: Während ich diese Klage hier niederschreibe, geht mir plötzlich ein Lichtlein auf. Ja, ich glaube allmählich zu verstehen, warum Ray im Wald und nicht in den Wald verschwunden ist. Ja, liebe Leser, Sie sind in diesem Moment Augenzeugen eines Denkprozesses geworden. Denn gerade jetzt habe ich das lästige Problem gelöst. Sie erleben die Lösung also synchron mit mir.
Und hier ist sie, die schöne Lösung: Für das deutsche Sprachempfinden ist ein Verschwinden stets ein Zustand und keine Tätigkeit. Ja, so ist es! Auch „Sein“ ist ein Zustand. Man sagt: „Er ist im Wald“. Keiner käme auf die Idee, „er ist in den Wald“ zu sagen. Der deutsche Sprachsinn fragt sich, wenn es um Zustände geht, nur Wo und nie Wohin. Und weil eben das „Verschwinden“ und das „Versinken“ als Zustände empfunden werden, kann die Wolke, wo verschwunden wird, nur als Ort verstanden werden; dito das Wasser, wo versunken wird.
Alles klar?
Falls nicht, ist auch egal. Sie gehen das Risiko ohnehin nicht ein, diesen Fehler zu machen. Hauptsache weiß ich, warum das Flugzeug in den Wolken verschwunden und der Mensch im Wasser versunken ist.
An dieser Stelle wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir zurufen würden: „Willkommen in der deutschen Sprache, lieber Sprachbloggeur.“ Nota bene: Man sagt hier in „der“ und nicht in „die“ Sprache. Für den Deutschen ist auch ein „Willkommen“ nur ein Zustand.
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