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Das Bagre der LoDagaa

Nur wenige in Deutschland kennen das "Bagre“. Ich selbst bin erst durch das Buch "The Domestication of the Savage Mind“ (etwa "Das Zähmen des wilden Verstands“) des britischen Ethnologen Jack Goody darauf gestoßen.

Goody schreibt viel über den Unterschied zwischen schriftkundigen und schriftunkundigen Kulturen.

Er behauptet, zum Beispiel, dass die Menschen in einer schriftlosen Kultur die Welt erleben, als wäre die ganze Natur – auch Stock und Stein – lebendig. Überall wittern die Schriftunkundigen den Einfluss von Göttern oder Dämonen, die ihr Geschick lenken. Um die Vergangenheit festzuhalten, haben sie neben dem eigenen Gedächtnis lediglich Mythen als eine Stütze. Ihre Mythen erzählen von den Ahnen und von der Schöpfung der Welt.

Doch kaum lernt ein Volk, die eigene Sprache in einer Schrift zu erfassen, betrachtet es die Welt mit ganz anderen Augen. Man erstellt auf einmal Listen und teilt die Dinge in Kategorien ein. Man kann über die Vergangenheit genau "Buch“ führen. Als zum Beispiel die Griechen zum Schriftvolk wurden, stellten sie die alten Mythen plötzlich in Frage und tauschten sie gegen Geschichte und Philosophie aus. Als Mensch der Schrift beginnt man nämlich logisch, kritisch und analytisch zu denken.

Aber zurück zum "Bagre“. Dieses Gedicht ist (oder war) eine Art Bibel für die LoDagaa, ein westafrikanisches Volk in Ghana. 1950 lebte Ethnologe Goody eine Zeitlang bei ihnen, als sie noch weitgehend schriftlos waren. Obwohl das "Bagre“ als heilig galt, gelang es Goody jemanden zu finden, der bereit war, es ihm heimlich vorzutragen. Diebisch freute er sich, als er den Text Satz für Satz sorgfältig niederschrieb – insgesamt 6133 Zeilen.

Die Jahre vergingen, und Goody kehrte 1969 zu den LoDagaa zurück. Diesmal brachte er ein Aufnahmegerät mit. 1974 kam er noch einmal und hatte jetzt Gelegenheit das "Bagre“ mehrmals auf Band mitzuschneiden.

Doch nun kam die große Überraschung: Er stellte fest, dass der Text jedesmal anders war und obendrein kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Gedicht aufwies, das er 1950 kopiert hatte. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Bibel lesen, und sie wäre jedesmal anders formuliert. Eine seiner "Bagre“-Versionen hatte lediglich 1204 Zeilen.

Diese Variationen schienen die LoDagaa jedenfalls nicht zu stören.

Allmählich verstand Goody, was hier los war. Er, der Mensch aus der Schriftkultur, hatte mit einem stets gleich bleibenden Text – einer Art "King James“ Bibel der LoDagaa – gerechnet. Doch unter Schriftlosen gibt es so etwas nicht. Schriftlose neigen vielmehr dazu, die gleiche Geschichte stets neu zu formulieren. Manche Episoden aus dem "Bagre“ waren sogar aus dem Repertoire verschwunden oder tauchten in veränderter Form wieder auf.

Nun darf man sich fragen, ob vielleicht auch unsere Bibel – zumindest das Alte Testament aber womöglich auf das Neue – einst auf ähnlicher Weise tradiert wurde wie das "Bagre“. Wenn ja, kann man davon ausgehen, dass sie erst durch die Schrift erstarrte wie die Fliege im Bernstein.

Nun wissen Sie den Unterschied zwischen den Schriftkundigen und den Schriftlosen.

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