Wie heißt eine Welt, in der alles absolut gleichwertig ist?
Wenn Sie meinen, die Antwort könnte „Paradies“ oder „Demokratie“ oder „Utopie“ lauten, dann irren Sie sich.
Die Welt, in der alles gleichwertig ist, heißt der Tod.
Stellen Sie sich drei Süppchen vor. Es sind die drei Süppchen aus dem „Goldilocks“-Märchen. Vielleicht kennen Sie dieses englische Märchen nicht.
Das Mädchen „Goldlöckchen“bricht einmal im Haus der drei Bären ein, wo Papabär, Mamabärin, und Babybär leben. Diese sind fort. Auf dem Tisch stößt die kleine Einbrecherin auf drei Suppenteller. Der vom Papabär ist Goldlöckchen zu heiß, der von Mamabärin zu kalt, der vom Babybär gerade richtig. Das diebische Mädchen verschnabuliert ihn genüsslich. Ich erzähle nicht weiter. Womöglich kennen sie die Geschichte ohnehin.
Nur folgenden Gedanken möchte ich hervorheben: Hätte Goldlöckchen etwas länger gewartet, bevor sie mit der verstohlenen Mahlzeit begann, oder wäre sie vielleicht eine halbe Stunde später im Bärenhaus eingebrochen, wäre die Geschichte anders verlaufen. Denn alle Süppchen hätten sich temperaturmäßig nach und nach einander angeglichen.
Das ist einfache Physik, genauer gesagt, eine einfache Aussage aus der Wärmelehre: Was zu heiß ist, kühlt sich (wenn nicht nachgeheizt) ab, was zu kalt ist, passt sich peu à peu der Umgebungstemperatur an.
In einem geschlossenem System, so sagen die Physiker, d.h. einer Umgebung, die keinen äußerlichen Einflüssen unterliegt, in diesem Fall – etwas vereinfacht – im Bärenhaus, würden sich die unterschiedlichen Temperaturen mit Sicherheit zunehmend einander angleichen. Man muss stets Energie investieren – Feuer machen oder einen Kühlschrank betreiben – , um diesen Verlauf– er heißt in der Wärmelehre „Entropie“ – entgegenzuwirken.
Diese abstrusen Gedanken fielen mir ein, als meine Frau berichtete, sie käme gerade von einer Vorlesung, wo der Sprecher, ein Kommunikationswissenschaftler, die zunehmende Gleichmäßigkeit der Medieninhalte anmahnte.
„Klar“, sagte ich meiner Frau spontan, „Das ist die ‚Informationsentropie’ am Werk.“
Ein kurzer Rückblick: Vor zwanzig Jahren redeten alle – auch ich – von der anbrechenden „Informationsrevolution“. Ich glaube nicht, dass die meisten von uns damals verstanden, was eine „Informationsrevolution“ bedeutete. Wir meinten lediglich: Es würde viel „Information“ zur Verfügung stehen. Man müsste den eigenen Informationsgebrauch mäßigen, um keinem „Informationsinfarkt“ zu erleiden usw.
Heute weiß ich sehr wohl, was mit diesem Schlagwort gemeint war: Information sollte dank dem nagelneuen Internet noch mehr denn je zuvor zu einer Ware, zu einer Großindustrie, werden – ähnlich dem Geschäft mit Erdöl und Erdgas. Nur damals, als die Kapitäne der Industrie in die Zukunft schauten, hat es noch kein „Google“, keine „Wikipedia“, keinen „Twitter“, kein „Facebook“ usw. gegeben. Inzwischen haben die Investment-Kapitalisten selbst kapiert, dass es verdammt schwer ist, Geld mittels „Information“ zu vermehren. Aber das ist eine andere Geschichte…
Wir bleiben bei den Unmengen disponibler Dateneinheiten, die heute in der Welt kursieren – das meiste in elektronischer Form.
Man kann diese Datenmenge mit den drei oben erwähnten Süppchen vergleichen. Um den Sinn der drei Süppchen zu erfassen, ist stets ein Goldlöckchen erforderlich. Ohne dieses Mädchen, blieben die drei Süppchen undifferenzierbar, ganz gleich welche Temperatur sie hätten. Wenn keiner die drei Süppchen näher erforscht, fallen sie notgedrungen der Informationsentropie zum Opfer. Heute kursieren Abermilliarden „Süppchen“ im Netz. Fast niemand weiß, wie sie schmecken oder wie heiß sie sind. Ohne eine angemessene Zahl von Goldlöckchen, fristen sie ihr Dasein inhaltlich leer.
Fazit: Wer Wissen in Erdöl verwandeln will, wird lediglich Suppen kochen, die Hungernde kaum oder nie werden auslöffeln können.
Endlich ist damit auch die alte Frage des Zenbuddhismus beantwortet: Wie klingt es, wenn man mit einer Hand klatscht?
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