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Achtung: Es spricht die Stimme des Spießertums (oder Der Künstler dankt dem Spießer)

Möchten Sie meiner neuen Interessengemeinschaft beitreten? Ach, klar, Sie möchten erst wissen, worum es geht.

Beinahe zögere ich mit der Sprache. Denn ich weiß schon jetzt, dass Sie gleich ablehnen werden.

Ich möchte nämlich zur Stimme des Spießertums werden. Und so wird meine I.G. auch heißen: Die Stimme des Spießertums e.V.

Mal ehrlich: Klingt hübsch, nicht wahr?

Raten Sie mal, was der seltenste Satz in der ganzen deutschen Sprache ist. Sie werden kaum drauf kommen. Er lautet: „Ich bin ein Spießer.“

Ist ja logisch! Wann haben Sie das letzte Mal diesen Satz freiwillig über die Lippen gebracht? Wahrscheinlich noch nie. Kein Mensch sagt von sich, er sei ein Spießer. Das dürfte das allergrößter „No-No“ in der deutschen Sprache sein. Das Fatale: Fast niemand weiß, dass es so ist.

Im Deutschen ist es immer der andere, der spießig ist. Eher gesteht einer,  Pädophile oder Mörder zu sein, als dass er sich zu seinem Spießertum bekännte.

Schade.

Und deshalb möchte ich dem Spießer – bzw., der Spießerin – mittels meiner I.G. Mut machen.

Ich fange selbst an, damit Sie keinen Zweifel an meine Führungsqualitäten haben.

I c h  b i n   S p i e ß e r.

Sie zögern es mir nachzumachen? Ach, kommen Sie schon. Nur Mut fassen:

I c h  b i n  S p i e ß e r (i n).

Na? War nicht so schlimm? Und wenn Sie es einmal über die Lippen gebracht haben, sind Sie praktisch zum Revolutionär geworden! Zum Helden! Ich gratuliere! Mit einem einzigen Satz haben Sie viel dazu beigetragen, die deutsche Sprache zu erneuern. Eine solche Gelegenheit hat man nicht jeden Tag. Und stellen Sie sich vor: Man musste erst das 21. Jahrhundert schreiben, bis es so weit war. So läuft es immer in der Geschichte. Es kommt der günstige Punkt, und zack!

Wie ich auf diese heilsgeschichtlichen Gedanken komme? Ich habe gestern an einen Künstler gedacht (ich verrate den Namen nicht), der sich ein Leben lang weigerte, U-Bahn zu fahren, weil er Kontakt mit der schnöden Masse so sehr scheute.

Wir Spießer sind anders. Wir lieben die schnöde Masse. Mehr noch: Die schnöde Masse, das sind wir!

Kennen Sie Antonin Artaud? Auch er war Künstler, ein Franzose, der viele Jahre seines Lebens in der Irrenanstalt verbracht hat. Nichts Ungewöhnliches für Künstler. Das tat auch Robert Walser. Hölderlin, Nietzsche usw. waren alle Kandidaten für die Irrenanstalt.

Artaud hat einmal einen kurzen Essay mit dem Titel – hier übersetze ich -  „Ich scheiße auf die Seele“ oder ähnlich geschrieben. Darin verweist er die Seele in ihre Schranken. Es brauche einen Körper, um die Seele mühevoll auszuschwitzen, schreibt er oder so ähnlich. Ich habe den Wortlaut längst vergessen. Es sind Jahre vergangen, seit ich den Text gelesen habe.

Ich sage hingegen: Es braucht Tausende von Spießern, um einen Künstler auszuschwitzen. Deswegen ist der Künstler dem Spießer stets zu Dank verpflichtet. Jawohl!

Und was macht der Künstler stattdessen? Er meidet die U-Bahn und dergleichen.

Das wird’s nicht mehr so schnell geben. Jetzt hat der Spießer endlich seine Stimme gefunden. Bald wird der Künstler ganz von allein auf die Idee kommen, sich zu bedanken.

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