Wir schreiben das Jahr 1969 (oder 1970). Standort: Isla Vista, California, ein Studentenstädtchen nahe der Universität California in Santa Barbara. Ein Quadratkilometer terra firma, wo Männlein und Weiblein fast ausschließlich zwischen 17 und 25 sind – und nur ein Katzensprung vom Pazifik. Ja, den Garten Edens hat es wirklich gegeben (und die Vertreibung aus dem Paradies).
Abends eine Lesung im Unicorn Bookstore. Der Schriftsteller – wie hieß er wieder? – sitzt vor dem Publikum hinter einem langen Tisch und liest aus seinem neuen Buch vor. Plötzlich Lärm. Ganz hinten an der Tür. Unruhe macht sich breit. Ein Penner steht da und plappert vor sich hin. Er ist ungewaschen, unrasiert, wahrscheinlich besoffen. Eine Gitarre baumelt von seiner Schulter. Nun drängt er sich zielsicher nach vorne, setzt sich auf den Tisch, wobei er die Sicht auf den Autor blockiert, nimmt seine Gitarre in Hand und fängt an einen Blues zu spielen. Etwa:
I just came in from Chicago, Chicago, Illinois.
Just came in from Chicago, Chicago, Illinois.
And I don’t have no place to go,
In this town of yours I’m just another new boy.
Oder ähnlich. Weil ich seinen Text nach so vielen Jahren nicht mehr weiß, habe ich obigen Blues improvisiert.
Die Zuhörer, Studenten, Literaten und sonstige kultivierte Menschen (oder deren gelangweilte Anhängsel) waren wegen dieser Unterbrechung nicht weniger irritiert als der gastierende Autor. Dennoch hat man den Eindringling – zumindest eine Zeit lang – geduldet. So sind wir Menschen. Man will stets eine Konfrontation, koste, was es wolle, vermeiden. Die Störung wurde aber zunehmend unangenehmer, und endlich forderte man den Landstreicher auf, entweder Platz zu nehmen und zu schweigen oder die Buchhandlung unverzüglich zu verlassen. Vielleicht hat man ihm mit ein paar Dollar zu einer Entscheidung verholfen wollen – das weiß ich nicht mehr so genau. Historiker bauen ihre Geschichten immer auf Fragmenten.
Doch jetzt komme ich zur Pointe – also zum Grund, warum ich diese Momentaufnahme aus der Vergangenheit auffrische. Schlussendlich haben ein paar forsche Mannsbilder den Partycrasher gepackt und waren dabei, ihn unsanft aus dem Laden hinauszukomplimentieren. Jetzt machte er erst recht Radau, als hätte man ihm in seiner Ehre verletzt. Zufällig stand an der Türe ein damals sehr bekannter amerikanischer Lyriker – ich werde hier den Namen allerdings stark verpixeln wie man es heute mit den interessantesten Bilder in den Zeitungen und im Internet zu tun pflegt. Wir nennen ihn also „Goethe“.
„Goethe“ selbst wurde die Situation wohl zu bunt, und auf einmal erhob er die Stimme mit stolzer Authorität: „Können Sie nicht endlich die Klappe halten.“
Gleich schubste ihn der Penner. Ja, er hat ihn einfach geschubst.
Der berühmte amerikanische Lyriker sah rot: „He! Was erlauben Sie sich! Ich bin Wolfgang Amadäus Goethe!“ brüllte er.
Was danach passierte, habe ich längst vergessen, ist eh nicht so wichtig. So sehr blieb ich an G.’s letzten Satz hängen.
Mein Gott, habe ich gedacht. Er ist mit seinem Namen verheiratet! Das, habe ich damals gedacht.
Verstehen Sie, wie ich das meine? So sehr hat er sich mit seinem Namen als Markennamen identifiziert, dass er der festen Meinung war, keiner darf ihn malträtieren. Ja, nur weil er „Goethe“ hieß.
Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich frage, was Lady Gaga nach Feierabend macht. Ist sie einer, der die eigene Identität nicht ablegen kann, bzw., will? Spielt sie „Lady Gaga“ „24/7“ (sprich: twenty-four seven), also tagein tagaus? Legt sie sich geschminkt und kostümiert ins Bett, die lackierten Fingernägel auf der Bettdecke fotoreportagenfertig ruhend?
Das Gleiche frage ich mich, wenn ich an den futuristisch frisierten Bill Kaulitz denke. Sieht er so aus, wenn er den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schiebt? Und wie ist er Zuhause? Schminkt er sich ab, zieht er die Handschuhe, das glitzernde Schuhwerk aus, um in die alten Schlappen zu schlüpfen?
Ach der Ruhm! Aus Menschen macht er Namen.
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