Wir befinden uns in der obersten Etage eines renommierten Verlagshauses in Deutschland. Bitte erwarten Sie von mir nicht, dass ich hier irgendwelche Namen ausplaudere.
Was ich an dieser Stelle zu erzählen habe, ist – das werden Sie verstehen – streng vertraulich, und ich bitte daher um Ihre Diskretion.
Vorstandsvorsitzender: Was ist das für ein Lärm da draußen?
Adlatus: O Herr, es sind die Entlassenen. Jetzt drohen sie damit, das Haus zu stürmen und uns aus dem Fenster zu werfen.
Vorstandsvorsitzender: Aus dem Fenster werfen? Ha! Unmöglich. Wissen die nicht, dass man diese Fenster nicht öffnen kann, außer dem schmalen Belüftungsschlitz ganz oben. Immerhin ist das Haus vollklimatisiert! Ignorant ist der Pöbel, das sage ich immer, und außerdem schrecklich ichbezogen . Als hätten wir so viele Leute aus nichtigen Gründen vor die Tür gesetzt! Man muss bedenken: Ihr Opfer bedeutet, dass andere Arbeitsplätze gerettet werden. Wissen die das vielleicht nicht?
Adlatus: Sie meinen, o Herr, dass wir ihre Arbeitsplätze hätten erhalten können, wenn wir von der Idee des zweistelligen Gewinns abgerückt wären.
Vorstandsvorsitzender: Vom zweistelligen Gewinn abrücken? Dass ich nicht lache! Vielleicht können Sie mir diese bodenlose Naivität erklären. Wissen die nicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und hier kein Wohltätigkeitsverein sind. Da draußen (er zeigt aus dem Fenster) herrschen raue Sitten. Jawohl! Sollen wir uns etwa von einer Firma in Abu Dhabi oder Neu Delhi feindlich übernehmen lassen? Na bitte, wo ist dann die Gerechtigkeit? Jeder denkt nur an sich, ohne sich das Gesamtbild vor Augen zu halten.
Adlatus: Sie sagen aber, wenn so viele Menschen arbeitslos sind, dann gibt es kein Publikum mehr, das unsere Produkte kauft.
Vorstandsvorsitzender: Unsinn. Jeder will lesen, erst recht, wenn die Zeiten schlecht sind.
Adlatus: Sie behaupten aber, sie hätten kein Geld mehr, nicht einmal fürs Brot.
Vorstandsvorsitzender: Dann sollen sie lieber Kuchen essen! (Pause) Hahaha. Das ist ja lustig. Das muss ich aufschreiben: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen. Ich glaube, ich habe einen Spruch für die Ewigkeit geprägt. Was sind das für Trottel! Haben sie denn kein Hartz IV? Wozu bezahle ich meine hohen Steuern? Fakt ist: Mit meinem Steuergeld finanziere ich die ganze faule Rotte. Was ist denn der Unterschied, ob ich sie durch Abgaben ans Finanzamt unterhalte oder mit einem Gehalt. So oder so bin ich ihr Arbeitgeber. Schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter. Keiner muss in Deutschland verhungern.
Adlatus: Sie meinen aber, wir hätten ihre Arbeitsstellen wegen Managerfehler aufs Spiel gesetzt, wir hätten nur ans Expandieren gedacht, bis dann alles in die Hose gegangen sei, sozusagen.
Vorstandsvorsitzender: Da gebe ich ihnen sogar recht. Wir waren zu expansiv. Und deshalb rudern wir jetzt zurück. Deshalb haben wir diese vielen Idioten gefeuert, pardon, entlassen. Lieber, Adlatus, Sie schauen auf einmal so skeptisch. Wollen Sie mir etwa Ihren Missmut zeigen? Sind Sie vielleicht einer von ihnen geworden? Meinetwegen. Sie wissen schon, wo die Tür ist.
Adlatus: Nein, um Gottes willen. Ich stelle nur zum ersten Mal fest, dass wir hier nicht allein sind. Da sitzt jemand drüben am großen Tisch und schreibt fleißig mit.
Vorstandsvorsitzender: Ach der. Das ist bloß der Sprachbloggeur. Machen Sie sich keine Gedanken. Wissen Sie, er hält sich für einen Superhelden, aber er scheint vergessen zu haben, dass es heute keine Superhelden mehr gibt. Manchmal mault er im Internet über uns, so habe ich jedenfalls erfahren. Man sagt, er habe einen kleinen Laden in einem Vorort der Stadt WehWehWeh. Von dort aus posaune er seine lächerlichen Klagen und sonstigen Ergüsse in die Welt hinaus. Sie dürfen ihn aber ruhig übersehen. Es hört ihm eh keiner zu. Wir können weiterreden, als wären wir unter vier Augen. Außerdem: Auch wenn er berichten sollte, was wir hier besprochen haben, wer wird ihn schon ernst nehmen? So ist es heute eben mit den Superhelden und mit der Redefreiheit.
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