Während ich jetzt schreibe, plärrt im Hintergrund eine besonders gehässige Warteschlangenmusik. Ich habe das Telefon auf „Lautsprecher“ umgeschaltet, um meinem Ohr den direkten Kontakt zu ersparen. Momentan träume ich davon, den Komponisten samt seiner Komposition in einem Zimmer einzusperren…der übliche Rachetraum halt.
Vor genau achtundhalb Minuten wählte ich diese Nummer. Es geht um meine Flugmeilen. Da ich im Oktober in die USA fliege, möchte ich wissen, ob ich inzwischen für den lang ersehnten kostenlosen Flug genügend „Meilen“ gesammelt habe.
Wie soll ich Ihnen diese Warteschlangenmusik am besten beschreiben? Stellen Sie sich vor: Jemand hat Sie an eine Pritsche gefesselt und läßt Wasser, Tropfen auf Tropfen – allegro con moto – , auf Ihre Stirn fallen. Blipp-blipp-blipp-blipp-blipp-blipp-blipp. Ratter-Ratter-Ratter. In meiner Jugend nannten wir das die „chinesische Wasserfolter“. Keine Ahnung, was man heute dazu sagt.
Meine Theorie: Man lässt mich solange auf den „Service Representative“ warten, weil man hofft, ich werde aus Frust und Zorn auflegen und den „Klub“ nie wieder mit meinem Wunsch nach einem kostenlosen Fliegermeilenflug belästigen.
Im Gleichtakt zur Musik erklärt mir eine zickige Roboterstimme, dass Mitglieder des „Klubs“ – wie ich ja einer bin – in den letzten 25 Jahren mehr als soundso viel Milliarden Meilen gesammelt hätten, was gleich soundso Millionen Flüge zum Mond und…
Klick. „Hallo.“
Sie müssen sich jetzt vorstellen. Nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit ist der – bzw. die – „Service Representative“ endlich an der Strippe. Roboterstimme und Warteschlangenmusik ade und zwar postwendend – ja, mitten in einem Satz verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Puff!
Nach dieser Einleitung wende ich mich endlich meinem eigentlichen Thema zu: der Sprache der Toten.
Auch das Warten auf den „Service Representative“ hat mit den Toten zu tun. Aus zwei Gründen. Erstens: Wenn man in der Warteschlange steht, fühlt man sich wie nicht mehr von dieser Welt. Zweitens: Der Tod kennt keine Manieren. Oft unterbricht er einen mitten in einem Satz.
Ja und was passiert, wenn einer auf diese Weise im Redefluss unterbrochen wird? Haben die Toten eine eigene Sprache, um mit ihrer Kommunikation fortzufahren? Ich meine, ja. Sprechen sie also Deutsch, Englisch, Tagalog, Chinesisch, Georgisch oder sonst eine von den tausenden irdischen Sprachen, die bei uns stets im Wandel sind? Das glaube ich wiederum nicht. Denn wenn die Toten eine irdische Sprache sprächen, würden sie, so meine ich, nach kurzer Zeit ziemlich alt aussehen. Man kann nämlich davon ausgehen, dass die Toten die neuesten Entwicklungen und Änderungen in der Sprache gar nicht mitkriegten.
Ich habe aber eine Theorie über die Sprache der Toten. Ich meine, dass die Toten die gleiche Sprache sprechen wie die Säuglinge. Das heißt: keine. Oder sagen wir keine Sprache im üblichen Sinn. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass die Toten alles sagen können, was es zu sagen gibt und das ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Auch wir Lebende beherrschen die Sprache der Toten. Davon bin ich fest überzeugt. Haben Sie jemals Gedanken „gelesen“? Wenn man Gedanken „liest“, hat man etwas verstanden, ohne dass man Wörter gebraucht hat.
Erst im Nachhinein „übersetzt“ man einen „Gedanken“ in Wörter.
In der Warteschlange hat man reichlich Gelegenheit, die Sprache der Toten zu „reden“. Man merkt es vielleicht nur nicht. Doch man tut es wirklich. Denn man ist während dieser Zeit nicht mehr von dieser Welt, und wenn man nicht von dieser Welt ist, spricht man automatisch die Sprache der Toten. Die verlernt man nie.
Übrigens: Die „Service Representative“ war ausgsprochen nett und nahm sich sehr viel Zeit für mich. Nächstes Mal bekomme ich meinen kostenlosen Flug. Das hat sie mir allerdings in einer Sprache von dieser Welt mitgeteilt.
Add new comment