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Wie ich die Zeitung zu lieben lernte

Freund Rick war ein wilder Junge, und ich werde Ihnen hier nur die anständigsten Geschichten über ihn erzählen. Auch sie sind nicht ganz ohne.

Wer lernten uns in Santa Barbara kennen. Das war vor mehr Jahren als manche, die diese Zeilen gerade lesen, alt sind.

Er war ein wilder Junge, und wir lebten in einer wilden Zeit. „Achtundsechsiger“ bedeutet auf Deutsch „politisch aktiv“. Die meisten von uns in den USA damals haben nur wenig von der Politik und erst recht nichts von den Feinheiten des Marximus verstanden. Wir wollten die Welt unpolitisch verändern – durch die Liebe.

Sind Sie noch da, liebe Leser? Keine Bange. Hier folgt kein Traktätchen über die Liebe. Wir haben geglaubt, dass wir jegliche Oberflächlichkeit und sonstige Trägheit des Willens durch eiserne Ehrlichkeit überwinden könnten.

Aber zurück zu Rick – nie „Ricky“ oder „Dick“ oder „Dicky“ oder „Richard“. Nur Rick. Er war kein Intellektueller und hatte nur ein Buch: Das Gesamtwerk des William Blake. Blake war Mystiker, der Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts in England lebte und manche unglaublich schönen Gedichte geschrieben hatte. Etwa die „Songs of Innocence and Experience“ – die Lieder der Unschuld und der Erfahrung. Wenn Sie mehr über ihn wissen wollen, besuchen Sie Wikipedia und Co. Auch Blakes „The Marriage of Heaven and Hell“ – Hochzeit des Himmels und der Hölle – zählten zu meinen Lieblingswerken. Eins der Sprichwörter der Hölle zitiere ich noch immer: „The road of excess leads to the palace of wisdom“. Zu Deutsch: Die Straße des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit – was manchmal auch stimmt, wenn auch (leider) nicht immer. In meiner Jugend habe ich diesen Spruch jedenfalls zum persönlichen Motto erhoben.

Wahrscheinlich liegt die Schuld bei mir, dass Rick zum Blake-Fanatiker wurde. Seine Lieblingswerke von Blake waren aber nicht die oben erwähnten. Er vertiefte sich in die sogenannten „Prophetischen Büchern“. Es waren komplizierte Mythen in einer wirren Sprache über die Zukunft Amerikas, Frankreichs etc. Ich habe nix verstanden. Rick glaubte, in diesen Schriften aber den Schlüssel zur letzten Weisheit  entdeckt zu haben und zitierte gnadenlos daraus, als handelte es sich um die Bibel. Es war furchtbar lästig.

Doch er konnte auch auf einer sehr liebenswürdigen Art verrückt sein – zum Beispiel, als er in den Besitz einer Kreditkarte kam. Sie müssen verstehen: Damals waren Kreditkarten eine Weltneuheit. Wie er zu seiner Kreditkarte kam, weiß ich nicht mehr. Denn Rick war eigentlich mittellos. Mit der Kreditkarte konnte er sich aber plötzlich alles leisten, was sein Herz begehrte.

So lud er mich öfters ins Restaurant ein. Stolz zückte er die Zauberkarte und alles war erledigt. Wenn er Benzin für seinen Wagen brauchte, tankte er einfach und bezahlte mit der Karte. Es war wie im Traum.

Diese Konsumerorgie gipfelte in einem Flug nach Ohio, seiner Heimat. Doch dort lauerte die Bundespolizei-FBI schon. Es hat sich offenbar in den Ämtern herumgesprochen, dass Rick mit seiner Karte nur Schindluder trieb. Mein Freund Rick kehrte, wie er mir später stolz berichtete, im Flugzeug nach Kalifornien zurück – diesmal allerdings in Handschellen. Er kam komischerweise glimpflich davon. Ich erinnere mich an die Details nicht mehr.

Was soll ich sagen? Ich erzähle von einem Zeitalter, das der Gegenwart kaum weniger weit entrückt ist wie das römische Kaiserreich. Es herrschten andere Sitten als heute.

Mir fällt Rick heute ein, weil er mich zu einem Zeitungsleser gemacht hat. Um ehrlich zu sein: Damals las ich so gut wie keine Zeitungen, ich besaß auch keinen Fernseher und hörte im Radio keine Nachrichten. Ich war sozusagen schlecht informiert.

Eines Tages las mir Rick aus der Santa-Barbara-News-Press vor. Es war die Rubrik „Diverses“. Es standen nur die verrücktesten Dinge drin. Er erzählte mir , z.B., von einem Mann, der schwanger zu sein glaubte und die entsprechende ärztliche Vorsorge verlangte. Dann war da die Geschichte von dem Typen, der einen Bowlingball klauen wollte, dessen Finger aber in den Löchern stecken blieben. In diesem Zustand hat man ihn aufs Revier gebracht. Es dauerte drei Tage, bis die Finger endlich befreit werden konnten. Etc. Etc. Rick hat mir die Rubrik „Diverses“ täglich vorgelesen. Einmal sagte ich ihm: „Und ich habe immer geglaubt, dass Zeitungen langweilig sind.“

Dank Rick begann ich selbst die Zeitung zu kaufen. Zuerst habe ich nur das „Diverses“ angeschaut. Allmählich habe ich mich auch für andere Seiten interessiert. Inzwischen bin ich zum „Newsjunkie“ geworden. Ja, alles Rick zu Dank.

Thanks, lieber Rick, wherever you are.

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