Können Sie sich vorstellen, wie Ihnen die Welt erscheinen würde, wenn Ihre Netzhaut nicht in Ordnung wäre? Nein, das können Sie sich nicht vorstellen, wenn Sie es nie erlebt haben.
Hier also – im wahrsten Sinn des Wortes – ein Augenzeugenbericht:
„Ich schaute über den Bodensee, aber das Wasser kam mir nicht flach vor. Mitten in meinem Gesichtsfeld erblickte ich einen Buckel – ja, einen Buckel auf dem Wasser. Es war mir sofort klar, dass es diesen Buckel in Wirklichkeit nicht geben könnte. Aber meine schlechte Netzhaut nimmt die Welt wellenartig wahr. Und oben auf dem Buckel sah ich einen Katamaran schweben.“
Ende des Zitats. Der Urheber bleibt anonym. Jeder hat das Recht auf seine Privatsphäre.
Was ich sagen will: Das, was das Auge als die Wirklichkeit wahrnimmt, ist nichts anders als ein Konsens. Er entsteht, wenn die meisten Menschen die Welt auf einer gewisser Weise erleben.
Und nun die nächste Frage: Wie klingt der Ruf einer Türkentaube? Erst letzte Woche habe während meines morgenlichen Spaziergangs ein Türkentaubenpärchen entdeckt. Man findet sie fast immer zu Zweit. Ich lauschte, und es kam mir vor, als würden sie „hu-hu-HUU“ rufen. (Manche hören übrigens ein „ku-ku-KUU“). Aber nun wollte ich etwas genauer hinhören. Ich stellte fest, dass ich mir das „H“ eingebildet hatte. Der Ruf war eindeutig vokalisch. Etwa: „u-u-UU“ oder vielleicht „uh-uh-UUH“. Übrigens: Bei uns in den USA heißen sie „mourning doves“, also „Trauertauben“. Das „uh“ oder „hu“ oder „u“ oder „ku“ wird konsensmäßig als trübsinnig wahrgenommen. „Mourning“ ist allerdings gleichlautend mit „morning“. Vielleicht kommt der Name aber daher? Ich glaube, dass sie ohnehin viel häufiger frühmorgens in die Welt rufen.
Alles jedenfalls eine Frage der Wahrnehmung. Aus gleichem Grund wird das Hundegebell je nach Konsens wahrgenommen. Im Englischen hört man ein „woof“ oder „bow-wow“ oder „arf“. (Notabene: Das „W“ ist als „U“ auszusprechen). Im Deutschen meint man ein „wau-wau“ zu hören. Wenn man aber genau hinlauscht, wird es klar, dass das Hundegebell rein vokalisch ist. Dito das „miau“ der Katzen. Das „M“ bilden wir uns schlichtweg ein.
Ich gebe zu: Ich habe Ihnen nichts Neues beigebracht. Dieses Erkenntnis hat jeder Mensch, ohne dass sich ein Schlaumeier wie ich mit Sentenzen über die Wahrnehmung wichtig machen muss.
Dennoch: So offensichtlich es ist, dass das, was man sieht und hört, konsensabhängig ist, haben Philosophen seit Jahrtausenden daraus komplizierte Gedankensysteme gemacht.
Das wird sich vielleicht bald ändern. Denn nun haben fleißige Genetiker am Max-Planck-Institut in Leipzig Mäusen menschliche FOXP2-Gene verpflanzt.
Das FOXP2-Gen wird von den Jungfrankensteinern als maßgebend fürs Sprachliche in Menschen angesehen. Wer weiß? Vielleicht werden die Mäuse – und später wohl auch andere Tiere – mal richtig zu sprechen anfangen.
Wenn schon, dann weiß ich, was die Mäuse als erstes zu sagen haben werden. Etwa Folgendes: „Pfui! Der Käse schmeckt scheußlich! Schon wieder einer dieser billigen Fertigkäse aus dem Supermarkt! Ich mag lieber einen würzigen alten Gouda oder einen pfiffigen Gruyère. Immer diese verdammten Sparmaßnahmen beim Max Planck! Warum müssen ausgerechnet wir die Folgen eurer Scheißfinanzkrise ausbaden? Ihr Menschen haben wirklich nicht alle Tassen im Schrank. Wetten, dass euch der Horizont des Bodensees flach vorkommt.“
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