Alina ist so groß wie ein Durchschnittshydrant auf einer Straße in New York. Ein Schäferhund wirkt aus ihrer Perspektive wie ein Pferd aus der Perspektive eines Durchschnittserwachsenen. Das hohe Gras eines ungemähten Rasens ist für sie wie ein Dickicht im Wald.
Von meinem Balkon höre ich sie unten im Garten kreischen und brabbeln. Noch letzte Woche brachte sie es sprachlich nicht weiter als „babababa“ und „bwodschs-t-tschra“ usw.
Vorgestern am frühen Abend sagte ihr ihr Vater wieder und wieder im selben steigenden Ton: „A-li-NA? A-li-NA? A-li-NA?“ Natürlich fand sie das alles anders als langweilig. Ihr ist jedes Gespräch, das sie versteht, äußerst spannend.
Anders der Vater. Ihn ermüdete die einseitige Diskussion nach kurzer Zeit. Nun war sie allein, und da ging’s erst los: „ga-di-MA?“, „na-gi-DA?“ und so weiter. Der Ton machte die Musik. Der Kopf kochte vor brennendem Interesse.
Noch bekommen Kinder in diesem Alter keine Noten für Ausdruck oder Sprachformulierung. Aber wer weiß? Vielleicht wird das Übertrittsalter fürs dreigliedrige Schulsystem künftig um ein paar Jahre herabgesetzt, um die geborenen Manager schneller und wirkungsvoller anzuzüchten. Für den Fall möchte ich Alinas Leistung an diesem Tag hiermit mit einem Einser benoten.
Man spürt, wie der Wille im Alinahirn von Minute zu Minute wächst, um das Geheimnis der Mundsprache zu knacken. Man kann beinahe die Verzweigung der Synapsen im Großhirn mithören. Das war aber doch erst der Anfang. Jetzt erzähle ich, was heute passiert ist.
Alina, knapp größer als ein Bowlingkegel, stand stramm im Garten, stolz wie ein Bäumling. Plötzlich schaute sie nach oben und brüllte mit klarer, heller Stimme: „Al-loo! Al-loo! Ha-looo!“ Die Aussprache war perfekt. Eine geborene Muttersprachlerin! Noch Wichtiger: Sie hat genau verstanden, was sie laut vor sich rief. Denn prompt kam die Antwort vom Balkon der Nachbarin: „Hallo!“ trillerte eine nette Dame freundlich zurück. Alina erwiderte sogleich mit einem erneuten begeisterten, „Ha-loooo!“
Zugegeben. Es war kein differenziertes Gespräch über Politik oder die Finanzkrise, wie man es täglich zu führen pflegt. Dafür war es aber ein sehr ehrlicher Austausch. Für Alina, die bestimmt lange für diese Premiere geübt hatte, war es ein Rundumerfolg.
Mit einem Mal hatte sie die Macht der Worte kapiert: Wenn einer „Hallo“ ruft, kann er damit rechnen, dass der andere mit „Hallo“ antwortet.
Es hat ihr offensichtlich so viel Spaß gemacht, ein richtiges Gespräch zu führen, dass sie prompt auch andere Vokabeln aus der Reserve zog: „Mama“, „Papa“ und „Sara“. So heißt ihre große Schwester. Die Stimme war klar wie eine Glocke.
Bedenken Sie: Dem Affen kann man eine Art Sprechen (Zeichensprache) beibringen, doch er tut es nur, wenn wir uns die Mühe machen, ihm es beizubringen.
Menschenkinder hingegen haben stets den Drang zu reden, sobald sie feststellen, dass andere Menschen das Gleiche tun. Auch wenn keiner sich mit ihnen direkt beschäftigt, bringen sie sich selbst im Gegenwart ihrer Artgenossen die Sprache bei.
Kein Wunder auch. Sie nehmen Sprache als ein Stück Freiheit wahr. Auch wenn er nur so groß ist wie ein New Yorker Hydrant, will der Mensch frei sein. Denn Freiheit bedeutet Selbstbestimmung. Und die will jeder Mensch, auch wenn ihm ein Schäferhund so groß vorkommt wie ein Pferd.
An dieser Stelle möchte ich nicht von Niederlagen und dergleichen im Leben eines jeden erzählen.
Heute sage ich nur: Willkommen in der deutschen Sprache, liebe Alina! Hallo!
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