You are here

Neusprech in China?

Für den Fall, dass Sie noch nichts über Ma Cheng erfahren haben, hier die Geschichte, die ich am Dienstag in der International Herald Tribune gelesen habe.

 Ma Cheng ist 26 Jahre alt und lebt in Peking. Vor einem Jahr erfuhr sie vom Amt für die Öffentliche Sicherheit (etwa Kreisverwaltungsreferat), dass ihr Vorname, Cheng, nicht länger zulässig ist. Der Grund: Er sei zu obskur. Es handelt sich in der Tat um einen exotischen Namen. Fürs chinesische Ohr klingt „Cheng“, so nehme ich jedenfalls an, wie „Ludger“ oder „Norwin“ oder „Sverre“ – einfach ungewöhnlich.

 Ihr Nachname „Ma“ hingegen gilt in China als Alltagsname. Laut der IHT tragen etwa 17 Millionen Chinesen diesen Familiennamen, der übrigens „Pferd“ bedeutet. Längst hat er Rang 13 der beliebtesten Nachnamen des Landes erobert. Wohl klingt Ma Cheng für einen Chinesen wie Femke Huber, was allerdings in Deutschland kein Problem fürs KVR wäre. Bei uns werden Wörter, bzw., Namen buchstabiert. Jeder kann einen Namen wie „Crisula“ oder „Femke“ lesen, auch, wenn er ihm noch nie begegnet war.

 Im Chinesischen ist die Sache freilich ganz anders. Jedes Wort dieser Sprache wird durch Bildzeichen dargestellt. Wenn ein Wort, bzw., ein Name, obskur ist, kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen das entsprechende Bildzeichen – in diesem Fall „Cheng“ – nicht wiedererkennen werden.

 Die Gesamtzahl chinesischer Bildzeichen liegt bei ca. 55.000. Das Amt für die Öffentliche Sicherheit hat auf seinen Rechnern aber lediglich 32.252 gespeichert. „Cheng“, das Wort bedeutet übrigens „galoppierende Hengste“ steht nicht darunter. Das Amt wolle keine Sonderanfertigungen mehr zulassen, heißt es. Cheng ade.

 Wobei Chengs Großvater den Namen für seine Enkelin extra ausgesucht hat, damit sie nicht zu den Null-acht-fünfzehnen der „Ma“-Menschen zählen müsste. Er wollte ihr eine gewisse Individualität gewährleisten, was in China ohnehin kein Vorteil ist. Der Nagel, der hervorsticht, wird niedergeklopft, heißt es im Land der Mitte.

 Nebenbei: „Null-acht-fünfzehn“ ist der Name eines Maschinengewehrs, das im Jahr 1908 (Null-acht) produziert wurde und während des Ersten Weltkriegs, genauer gesagt 1915 (fünfzehn) mit ein paar Veränderungen an die Truppen ausgegeben wurde. Wer das 0815 bekam, war im Besitz der allgemein gültigen Waffe.

 Doch zurück zu Ma Cheng. Ihre Geschichte hat mich nachdenklich gemacht. Umso mehr als ich im Artikel erfuhr, dass die chinesische Regierung seit 2003 bemüht ist, die bereits existierende Zahl der Schriftzeichen um einiges zu reduzieren. Notabene: Im tagtäglichen Leben sind ca. 3.500 im Gebrauch.

 Obskure Zeichen werden also als erste ausgemustert. Kann es sein, so habe ich gedacht, dass mit dem Ausscheiden „obskurer“ Bildzeichen vielleicht auch „obskure“ Ideen ausgemustert werden? Immerhin: Fehlt das Zeichen, so geht auch der Begriff, der vom Zeichen dargestellt wird, zeitgleich verloren. George Orwells „Neusprech“, die Sprache des Totalitarismus, wird auf gerade diesem Prinzip gebaut. Ziel des Neusprechs ist es, unliebsame Ideen aus dem Wörterbuch und den Printmedien zu verbannen, bis man ganz vergessen hat, dass sie jemals existiert hatten.

 Doch auch wenn es das Neusprech in Europa gäbe, könnte jeder dennoch jederzeit die verschollenen Wörter zumindest lesen, falls er auf sie stoßen würde. Denn unsere Wörter werden phonetisch, also alphabetisch, geschrieben.

 Im Chinesischen ist die Sache schwieriger. Ist das Schriftzeichen nicht zu entziffern, weißt man nicht, wie das Wort klingt Fazit: Die chinesische Bilderschrift wäre geradezu ideal für die Realisierung des Neusprechs. Trotzdem bezweifele ich, dass es jemals dazu kommen wird, kann. Auch nicht in China. Keine Sprache ist ganz steuerbar. Denn eine Sprache ist stets das Produkt des kollektiven Willens. Nicht einmal das Amt für die Öffentliche Sicherheit kann diesen brüllenden Tiger namens Sprache ganz bändigen. Es lebe Ma Cheng. Gambej!

Add new comment

Filtered HTML

  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Allowed HTML tags: <a> <p> <span> <div> <h1> <h2> <h3> <h4> <h5> <h6> <img> <map> <area> <hr> <br> <br /> <ul> <ol> <li> <dl> <dt> <dd> <table> <tr> <td> <em> <b> <u> <i> <strong> <font> <del> <ins> <sub> <sup> <quote> <blockquote> <pre> <address> <code> <cite> <embed> <object> <param> <strike> <caption>

Plain text

  • No HTML tags allowed.
  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Lines and paragraphs break automatically.
CAPTCHA
This question is for testing whether you are a human visitor and to prevent automated spam submissions.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.