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Siezen auf amerikanischer Art – ein grausames Beispiel (und etwas Dante hinzu)

Womöglich kennen Sie die Geschichte von Joao Correa längst. Ich werde sie hier trotzdem aufwärmen, wenn auch nur eines einzigen Wortes wegen .

 Herr Correa war am 28. März in einer Delta-Maschine von Honduras nach Atlanta, US-Bundesstaat Georgia, unterwegs. Einer Associated-Press-Meldung zufolge erlitt er ca. dreißig Minuten nach Abflug einen „bathroom emergency“ – wörtlich einen „Badezimmernotfall“, will sagen, er musste dringend auf die Toilette.

 Leider blockierte ein Getränkewagen den einzigen Gang der schmalen 737-Maschine und hinderte ihn daran, das WC, das sich im hinteren Teil des Flugzeugs befand, zu erreichen. Herr Correa fasste eine schnelle Entscheidung und eilte in Richtung Business-Class-WC.

 Jetzt tauchte aber ein neues Hindernis auf. Eine Stewardess stellte sich eisern vor die Klo-Türe und erklärte ihm in engmaschigem Vorschriftsenglisch, dass das Business-Class-WC ausschließlich für Business-Class-Passagiere reserviert sei. Die Dringlichkeit seiner Bedürfnisse konnte ihr Herz offenbar nicht weichen.

 Ab diesem Augenblick gehen die Bekundungen auseinander. Herr Correa beteuerte, er habe das Gleichgewicht plötzlich verloren und sich instinktiv an der Stewardess festgehalten, um sich zu stabilisieren. Die Stewardess behauptete indes, dass er sie tätlich angegriffen habe. Wie dem auch sei. Er wurde in Atlanta verhaftet und wird wegen seines vermeintlichen Angriffs gerichtlich belangt.

 Eine Schauergeschichte ganz sicher. Denn jeder weiß, wie es ist, wenn einem plötzlich ein Badezimmernotfall übermannt. Man hätte in diesem Fall eigentlich mit etwas Kulanz gerechnet.

 Mich interessiert diese Geschichte, wie schon angedeutet, wegen eines einzigen Worts. Sie werden es im obigen Text allerdings nicht finden. Ich habe es nämlich in einem Kommentar des Journalisten Roger Cohen in der „International Herald Tribune“ (16. April) gefunden, einer Art Meditation über diese absurde Gegebenheit. Cohen hat sich das Gespräch zwischen Herrn Correa und der Stewardess am Wägelchen vorgestellt. „Sie müssen leider warten, Sir“, sagt die Flugbegleiterin, „wir sind dabei, die Getränke und die Erdnusstütchen auszutragen.“

 Ich blieb am Wort „Sir“ hängen – eigentlich eine altfranzösische Höflichkeitsfloskel, „Sieur“, die man früher als Anrede für Adlige verwendete. Es wird vom lateinischen „senior“, „der Ältere“ abgeleitet, das wiederum Urvater des „signore“ und des „señor“ usw. ist. Nebenbei: Wer auf Französisch mit Gott parliert, spricht ihn mit „Sieur“ an. Das heutige französische „monsieur“ stand sicherlich Pate fürs deutsche „Mein Herr“ und das holländische „mijnheer“.

 Auch in der heutigen amerikanischen (und englischen) Sprache verwendet man „sir“, wenn man jemandem besonderen Respekt zollen will. Doch diese knappe Vokabel hat im Englischen noch eine zweite Funktion: Sie soll Distanz schaffen. Mit anderen Worten: Sie bezeichnet ein englisches Siezen. Wenn Sie jemand mit „sir“ (oder „madam“ bzw. „ma’am“) anspricht, können Sie davon ausgehen, dass man Sie gesiezt hat.

 Für den Deutsch Sprechenden ist dieses Wissen hilfreich. Man wird überall in Amerika (und zusehends auch in England) von fremden Menschen mit Vornamen angesprochen. Das klingt auf Anhieb so locker und freundlich, bedeutet aber letztendlich nichts Intimes. Mitten in einem Satz kann es vorkommen, dass derjenige, der Sie gerade „Jörg“ oder „Karin“ genannt hat, auf „Sir“ oder „Madam“ umschaltet.

 Nur ein freundlicher Wink mit dem Zaunpfahl und mit besten Empfehlungen des Sprachbloggeurs. Denn wer weiß, vielleicht werden auch Sie mal im Flugzeug unter einem plötzlich auftretenden Badezimmernotfall leiden. Wenn die Stewardess Ihnen mit „Sir“ oder „Madam“ den Weg zum Business-Class-Klo blockiert, dann wissen Sie, was es bedeutet, in der Hölle zu sein. Am Tor des finsteren Reich der Qualen steht Dante zufolge: „Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung hinter sich.“

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