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Schwierige Zeiten

Wann ist die Vergangenheit keine Vergangenheit? Vorsicht: Trickfrage.

Ich mache mir nämlich Gedanken über die sprachliche Handhabung der Zeit. Will ich Ihnen in deutscher Sprache vermitteln, wie lange ich hierzulande lebe (Antwort: über 30 Jahre! – huii, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich gut amüsiert hat!) , dann drücke ich diesen Tatbestand folgendermaßen aus:

"Ich lebe seit über 30 Jahren in Deutschland.“

Aber stopp! Wieso steht das Wort "lebe“ im Präsens, wenn hier mitunter auch von der Vergangenheit die Rede ist? Präsens, um Vergangenheit auszudrücken? Komisch.

Nicht anders wird diese Aussage im Französischen gehandhabt:

"J’habite (Präsens!) en Allemagne depuis plus que 30 ans.“ Alternativ könnte man sagen: "J’habite en Allemagne il y a plus que 30 ans.“ Dieses "il y a“ bedeutet etwa "es gibt da“. Damit verwende ich zwei Sätze, um eine Idee auszudrücken. 1.) "Ich lebe in Deutschland, 2.) "Über 30 Jahre gibt es da.“ Raffiniert.

Das Spanische macht es ähnlich:

"Vivo en Alemánia hace más que 30 años.” Wörtlich: “Ich lebe in Deutschland. Das macht mehr als 30 Jahre aus.“ Logisch aber irgendwie doch umständlich.

Sie sehen: In allen bisher aufgeführten Sprachen wird das Präsens gebraucht, um Vergangenes mit der Gegenwart zu verbinden.

Das alte Latein, das wahrlich über eine Vielfalt von Zeiten verfügt, handhabt diese meine zeitliche Aussage nicht anders: "Plus quam XXX annos in Germania jam vivo“.

Viele Sprachen kennen nur wenige grammatikalische Zeiten: die semitischen Sprachen etwa, auch die slawischen, ebenfalls Ungarisch und, selbstredend, die germanischen. Oft behelfen sie sich mit zusammengesetzten Formen. Zu diesem Zweck verwendet das Deutsche "haben“, "sein“ und "werden“. Doch trotz dieser zusätzlichen verbalen Flexibilität wird in den meisten mir bekannten Sprachen Angaben über meinen Aufenthalt in Deutschland dennoch mit Präsens wiedergegeben.

Nur im Englischen gibt es, soweit ich informiert bin, eigens eine grammatikalische Zeit, die betont darauf hinweist, dass eine Handlung in der Vergangenheit angefangen hat und bis in die Gegenwart andauert:

"I have been living in Germany more than 30 years.“ sagen wir auf Englisch. Diese Zeit heißt wohl auf Deutsch "Verlaufsform (“I am doing…“ usw.) des Perfekts“ (Im Englischen: "present perfect continuous“). Übrigens: Das Spanische hat die gleiche Form. Sie wird aber nicht verwendet, um, wie im Englischen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen.

Um die Sache noch ein bisschen zu verkomplizieren: Wir können im Englischen ebenfalls sagen: “I have lived in Germany more than 30 years”. Gibt es da einen Bedeutungsunterschied zu "I have been living…“? Jawohl. Ersterer Satz drückt die Lebendigkeit der Handlung aus. Der Englischsprechende versteht sogleich, dass derjenige, der "I have been living…“ verkündet, eine kurze filmische Darstellung seines Lebens mitteilen will. "I have lived…“ wirkt auf den Hörer indes so statisch wie ein Foto. Es beschreibt den Tatbestand nur faktisch. Eine solche Formulierung liest man über einen Menschen etwa in Wikipedia – lediglich als kurze, biographische Angabe.

Eigentlich wollte ich heute über das Hornberger Schießen schreiben. Doch dann begann ich über Verbformen nachzudenken. Darüber könnte ich auch viel mehr erzählen. Doch auch über das Hornberger Schießen habe ich einiges zu berichten.

Sie sehen: Schon habe ich begonnen von der Zukunft zu sprechen.

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