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Vom Leben nach dem Sprachtod

Darf ich vorstellen: Meng Schudsching. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt und lebt in der Stadt Sandschisi in China.

Was hat es für eine Bewandtnis, dass ich Sie mit Frau Meng bekannt mache? Ganz einfach: Sie gehört zu den letzten Muttersprachlern der Mandschusprache. Mandschu ist nicht irgendeine Sprache. Während der Qing-Dynastie (1644 und 1912) lenkten Mandschus das Geschick Chinas. Haben Sie von der "verbotenen Stadt" vor dem Platz des himmlischen Friedens in Peking gehört? Da gingen die Mandschuherrscher Jahrhunderte lang ein und aus.

Doch um die Überlebenschancen der Mandschusprache scheint es heute noch schlechter bestellt zu sein als um die des weißen Nashorns oder des tasmanischen Tigers. Außer Frau Meng beherrschen nur noch 17 Mandschus diese alte Kultursprache – keiner davon ist unter achzig Jahren.

Als ich am Wochenende in der International Herald Tribune über Frau Meng las, dachte ich spontan an Ned Maddrell, der 1974 mit 97 Jahren als letzter Muttersprachler der Manxsprache gestorben war. "Manx" ist eine keltische Sprache, also mit dem Irischen und dem Schottischen verwandt, und wurde seit der Antike auf der Insel Man gesprochen. Allerdings: Seitdem Mr. Maddrell gestorben ist, hat sich offenbar einiges getan. Die Manxsprache wird nämlich wiederbelebt! Denn nach Ned Maddrells Tod begannen diejenigen, die das Manx als Zweitsprache noch immer einigermaßen beherrschten, die Sprache erst recht zu pflegen. Heute werden auf der Insel Grundschulen betrieben, wo das Manx als Erstsprache unterrichtet wird. Hut ab.

Ähnliches ist der kornischen Sprache widerfahren. Obwohl die letzte Muttersprachlerin 1775 gestorben ist, gab es bereits Anfang des 20. Jahrunderts Bemühungen, diese alte keltische Sprache aus dem Cornwallgebiet Englands neu zu beatmen. Dies geschah allerdings mit Abstrichen: Es gab früher nicht nur eine kornische Sprache, sondern mehrere Dialekte im Umgang. Die neukornischen Sprecher mussten sich auf eine "Hochsprache" einigen. Nach Auskunft der Webseite www.cornish-language.org gibt es inzwischen Tausende, die die wiederbelebte Sprache anwenden. Hut ab.

Auch Schi Dschunguang, 30jähriger Enkel der oben erwähnten Meng Schudsching, gibt sich Mühe, das Mandschu wiederzubeleben. Er versteht die Sprache selbst noch ziemlich gut und unterrichtet sie an 76 Kinder in der Dorfschule. Mal sehen, was passiert.

Ich verstehe sehr gut, dass man sich bemüht, eine Sprache zu "retten". Eine Sprache zu verlieren ist nunmal eine traurige Sache. Jede Sprache ist ein einzigartiges Mittel die Welt aus einem bestimmten Blickwinkel zu erklären. Sprachen sind von daher so individuell wie Menschen. Dennoch wundere ich mich nicht, dass sie auch sterben. Warum soll es Sprachen anders ergehen als allem sonst auf Erden? Die Vergänglichkeit ist bei uns die Regel und nie die Ausnahme.

Auch auf würdige Art darf eine Sprache gelegentlich Abschied nehmen. Ich denke an den Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, der seine Romane und Geschichten in der dahinsiechenden jiddischen Sprache schrieb. Er sagte gerne, er schreibe für die Geister.

Übrigens: Es existieren heute zwei wiederbelebte Sprachen, die nicht allein durch eine "künstliche Beatmung“ einiger hartnäckiger Liebhaber am Leben gehalten werden. Diese Sprachen sind sogar höchst lebendig geworden. Die Rede ist vom Hebräischen und vom Hocharabischen. Beide fristeten Jahrhunderte lang ein Dasein als "gelehrte" Sprachen und wurden hauptsächlich von Theologen und sonstigen "Gelahrten" angewendet – ebenso wie das Lateinische bis ins 20. Jahrhundert. Dank dem Rundfunk und dem Fernsehen ist das Hocharabische mittlerweile zu einer Art Hochsprache aller Araber geworden und unterschiedet sich erheblich von den vielen Dialekten. Es hat den gleichen Stellenwert in der arabischen Welt wie heute das Hochdeutsch in den deutschsprachigen Ländern. Was das Hebräische betrifft: Die Bemühungen um einen jüdischen Staat Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zum Anlass auch diese alte Sprache wiederzubeleben. Sie ist mittlerweile zur Muttersprache von Millionen geworden und verfügt über eine reiche Umgangsprache.

Ob die weißen Nashörner und die tasmanischen Tiger doch noch eine Chance haben?

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