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Es folgen ein paar Obzönitäten

Als ich mit meiner Familie 1998 nach Deutschland zurückkehrte, waren meine Söhne noch klein. Sie sprachen akzentfreies Englisch, doch eins hatten sie in der Vatersprache noch nicht ganz verinnerlicht: den Gebrauch des obzönen Wortschatzes.

Ich gebe zu, ich bin ein bisschen pingelig, was Sprachfehler im Englischen betrifft – obwohl ich selbst wahrscheinlich heute in meiner Muttersprache mangels Gelegenheit nicht mehr so ganz auf dem Posten bin wie früher.

1998 war mein Ohr jedenfalls noch sehr fein eingestellt. Als ich eines Tages hörte, wie mein älterer Sohn seinen jüngeren Bruder mit den Worten "You fuck!“ beschimpfte, fühlte ich mich verpflichtet zu intervenieren. "Nein,“ tadelte ich, "das ist kein Englisch“. Willst du dieses Wort benutzen, dann bitte richtig. Du kannst, zum Beispiel sagen 'You fuckhead' oder 'You shit', aber 'You fuck' nein, das sagt keiner.“

Warum ich diesen Blick ins Familienalbum werfe: Weil ich heute auf der CNN-Webseite Auszüge aus einem Video des geisteskranken Mörders/Selbstmörders Cho Seung-Hui anschaute. Diese Person wollte offenbar vor laufender Digikamera in der dubiosen Tradition der Selbstmordattentäter sein Verbrechen rechtfertigen. Er hatte eben zwei Menschenleben ausgelöscht und sollte kurz nach der Aufnahme zum Campus der Virginia Tech zurückkehren, um das Leben von noch 30 Unschuldigen zu vernichten. Der Täter redete erwartungsgemäß wirres Zeug, wobei er sich, wie so oft der Fall bei solchen kranken Hirnen, zum alleinigen Opfer erklärte. Möge ein Psychiater den Inhalt analysieren, mich interessiert viel mehr, dass CNN jedes Mal mit einem "Piep“ den Wortschwall zensierte, wenn der Mörder eine Obszönität verwendete. Beispiel: "I may be nothing but a piece of… PIEP… to you…“ (“Ich bin wohl nicht mehr als ein Stück…PIEP…für euch”)

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich schließe mich der Meinung meines seligen Professors für Latein am Queens College in New York, Samuel Lieberman, an: Man müsse behutsam mit Obzönitäten umgehen, pflegte er zu sagen. Es handele sich um den einzigen Zauber, der uns in der Sprache noch übrig bleibt.

Doch was Chos Erguss betrifft, halte ich die Zensur für unangebracht. Mit ihr wird der Rest seiner krankhaften Polemik de facto verharmlost. Hier hat CNN die Wertstellungen leider umgewertet.

Umso absurder wirkt diese vermeintliche Prüderie, wenn man weiß, dass die gleiche Internetseite ohne Zensur sowohl das Saddam Hussein-Hinrichtungsvideo wie auch immer wieder sonstige, gewalttätige Szenen ausstrahlt.

Der Widerspruch liegt auf der Hand und ist häufig bei den großen US-Fernsehsendern zu beobachten: Mord und Totschlag sind erlaubt, nackte Busen und gewisse Obszönitäten dagegen nicht. Jeder kennt die Geschichte von Janet Jacksons "wardrobe malfunction“ ("Garderobenpanne“), wie es hieß, als Justin Timberlake 2004 während der Halbzeitfestivitäten des "Superbowl“-Spiels – wohl versehentlich doch vor Abermillionen Amerikanern – die rechte Brust der Sängerin Janet Jackson entblößte. Beide "Prominenten“ wurden wegen dieses Vergehens in die einstweilige Verbannung geschickt.

Sicherlich ist diese verkehrte Prüderie nicht nur ein Problem in den USA. Ähnliches ist auch gang und gäbe in vielen arabischen Ländern, in Indien, in China usw.

Europa (zumindest Teile davon) bleibt wohl die letzte Insel der geduldeten Sprachobszönität (natürlich nur, wenn es sich nicht um eine Verleumdung handelt). Auch die Barbusigkeit wird auf diesem einsamen Kontinent vielerorts nicht geahndet. Wie lange aber noch?

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