Lange habe ich geglaubt, dass die britische Königin Victoria Zeit ihres Lebens Englisch mit deutschem Akzent gesprochen hat. Immerhin hat ihre Mutter, die deutsche Victoria von Sachsen-Coburg-Saalfeld, mit Tochter Victoria bis zu deren drittem Lebensjahr nur Deutsch gesprochen. Victorias Vater war überdies ein Sohn des Hannoveraners George III.
Doch das Gerücht von Victorias deutschem Akzent zählt letztendlich zu den "urban legends“. Die Queen hat einwandfreies Englisch gesprochen und beherrschte nebenbei auch Deutsch und Französisch in Wort und Schrift.
Tatsache ist: Jede neue Sprache, die man vor der Pubertät fließend gelernt hat, sitzt so tief im Ohr und in der Sprechmuskulatur, dass man sie wie ein(e) Muttersprachler(in) reden wird. Eine Sprache nach der Pubertät zu lernen, hinterlässt dagegen Spuren.
Beispiel Henry Kissinger. 1923 wurde der künftige amerikanische Außenminister in Fürth geboren, und 1938 flüchtete er in die USA mit seinem Eltern und seinem Bruder Walter. Henry spricht Englisch zeit seines Lebens mit deutlichem deutschem Akzent. Bruder Walter hingegen, der ein Jahr jünger als Henry ist, und die Pubertät damals nicht ganz hinter sich hatte, spricht Englisch ohne erkennbaren ausländischen Akzent.
Um so weniger, kann es verwundern, dass auch meine Aussprache des Deutschen stets "fremd“ klingen muss. Immerhin haben meine Erfahrungen mit dieser mir fremden Sprache begonnen, als ich bereits 27 Jahre alt war. Wenn ich den Mund aufmache, erkennt jeder, dass ich kein Hiesiger bin, obwohl ich nicht unbedingt den typischen amerikanischen Akzent habe mit dem sogenannten "Kaugummi-R“. Als ich neulich in Berlin war, fragte einer, ob ich aus Holland käme. Ein anderer tippte auf Österreich oder die Schweiz, woraufhin ich lapidar antwortete , dass ich in München wohne. "Immerhin die richtige Ecke“, meinte mein Gesprächspartner. Ich nickte freundlich und hochstaplerisch.
Wer mit seinem fremden Akzent nicht ganz fertig wird, für den gibt es allerdings heutzutage Hoffnung – zumindest in den USA. In der Mittwochausgabe der "International Herald Tribune“ entdeckte ich einen Artikel über einen neuen Berufszweig: „accent reduction“. Beispiel Jennifer Pawlitschek. Die gelernte Theaterewissenschaftlerin arbeitet in New York als Sprachcoach und erteilt Unterricht an Ausländer, die akzentfreies – bzw. akzentreduziertes – Englisch beherrschen wollen. Die Stunde Privatunterricht kostet $100-$125. Frau Pawlitschek behauptet, man könne nach 10-15 Unterrichtsstunden mit positiven Ergebnissen rechnen.
Der Unterricht geht freilich nicht ohne großen Aufwand vonstatten. Eine Fremdsprache akzentfrei zu lernen, bedeutet buchstäblich eine ganz neue Mundstellung zu erlernen. Zunge, Kinn, Kiefer verhalten sich einfach anders von Sprache zu Sprache.
Die Akzentreduzierung als Beruf scheint aber im Kommen zu sein. In Ann Arbor, US-Bundesstaat Michigan, betreibt eine gewissse Judy Ravin ein "Accent Reduction Institute“. In White Plains, New York (einem Vorort von New York City) kann man Kurse des Coaches Brian Loxley besuchen.
Wäre eine nützliche Berufsnische auch für den deutschen Sprachraum? Oder?
Aber wissen Sie was? Ich rede Deutsch schon seit so langer Zeit mit Akzent, dass ich,sollte ich ihn jemals verlieren, dem Verlust meines Akzents richtig nachtrauern würde. Mein Akzent ist mir längst zum Bestandteil der eigenen Identität geworden, er ist praktisch der vernehmbare Beweis des eigenen, einzigartigen Schicksals. Auf ihn verzichten zu wollen, bedeutete einen Teil von mir aufzugeben – oder ein Leben als richtigen Hochstapler anzunehmen. Akzentreduzierung? Akzentfrei sein? Nein, Danke.
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