Der Schuh hat gedrückt, doch wo genau, war mir nicht klar.
Ach ja! Sie wissen nicht, wovon ich rede. Natürlich nicht. Ich fange also von vorne an. Es geht um ein Sommerfest. Wir, also ich, meine Frau und eine Bekannte, kamen mit dem Zug aus München etwas verspätet an. Wir setzten uns an dem Tisch, den uns unser Gastgeber angewiesen hat.
Unsere Tischnachbarn waren uns nicht bekannt, was in Ordnung ist. So lernt man neue Leute kennen, was oft spannend ist. Und siehe da: Es stellte sich heraus, dass die anderen sympathisch waren! Nach und nach gerät man ins Gespräch und tauscht ein wenig Information über sich aus. Wie es halt ist im Leben.
Ein Gast war wohl Zahnarzt. Aus Gründen, die ich unten erläutern werde, nehme an in Ruhestand. Er erzählte im Lauf eines assoziativen Gesprächs, wie man eines mit Fremden führt, von seinen Reisen im Fernosten, zeigte uns Fotos von sich und einem anderen Menschen, der auch auf dem Fest war, wenn aber nicht an unserem Tisch.
Ich war nie im Fernosten und teilte mit, dass ich eine solche weite Reise wahrscheinlich nicht antreten würde. Ich möge lange Flüge nicht, usw. Das übliche Blabla, das man redet, wenn man mit Fremden zusammengeworfen wird.
Doch irgendwie in diesem Gespräch mit dem ehemaligen Zahnarzt hat der Schuh gedrückt. Es war, als wäre mein Gegenüber nur zweidimensional. Komische Beschreibung. Es fehlte aber eine Dimension. So einen wie ihn kannte ich früher in München. Man redete, aber es war wie ein Gespräch mit einem Telefon-Roboter: flach.
Dann sind wir aufs Thema deutsche Dialekte gekommen. Ja, tiefschlürfend ist das Thema nicht. Ich bekannte mich jedenfalls begeistert zur bayerischen Sprache. Er hingegen, der, wie es sich herausstellte, in Sachsen lebt, erklärte, er sei kein Freund des Sächsischen. „Zum Schuhe ausziehen“, fügte er dann hinzu.
„Ich mag das Sächsische“, entgegnete ich.
Haben wir dann auch übers Schwäbische oder das Hessische geredet? Das weiß ich leider nicht mehr. Fest steht nur: Er meinte jedenfalls, auch ein anderer Dialekt wäre „zum Schuhe ausziehen“.
Viel tiefer entfaltete sich unser Gespräch nicht. Erst später im Zug nach München, erfuhren wir von unserer Reisebegleiterin, dass besagter Zahnarzt a.D. an Alzheimer erkrankt sei.
Zum Schuhe ausziehen, habe ich gedacht. Er wirkte zwar etwas – wie oben gesagt – zweidimensional, aber ich hatte stets den Eindruck, dass wir ein ganz normales oberflächliches Gespräch geführt hatten. Will heißen: Er vermochte ganz normal über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reden.
Einzig sein Gebrauch des Idioms „zum Schuhe ausziehen“ eckte komischerweise an. Keine Ahnung, warum. Vielleicht habe ich es als Argument über einen Dialekt als etwas unpassend erachtet.
Nebenbei: Dieses Idiom hatte ursprünglich eine etwas – sagen wir differenziertere – Bedeutung. Es ist – so Heinz Küpper, mein Lieblingsumgangssprachler (Wörterbuch der deutschen Umgangssprache), – erst ca. 1870 belegt. Damals im Sinne von „am Rande der Verzweiflung bringen“. Für ein Gespräch über Dialekte hat so etwas wie Verzweiflung eigentlich nur wenig zu suchen, es sei denn, man versteht den Mundartsprecher nicht. Das kann freilich durchaus frustrierend sein.
Eigentlich bedeutet es, so Küpper, wenn etwas (oder jemand) einem „die Schuhe auszieht“, dass man einen kostbaren Besitz verliert. Zur Erinnerung: Um 1870 waren Schuhe teuer. Wäre es vielleicht passender, wenn der Zahnarzt über seine Beziehung zu Dialekten gesagt hätte: „der Schuh drückt“. Auch keine maßgeschneiderte Antwort aber womöglich sinnvoller. Ich will ihn aber nichts in die Schuhe schieben.
Nebenbei: Küpper hat in seinem Wörterbuch eine Liste von ca. 40 deutschen Redewendungen zusammengestellt. Alle an dieser Stelle hier aufzulisten, wäre mir freilich eine Schuhnummer zu groß.
Eins steht aber fest: Man weiß nicht unbedingt immer, wer Alzheimer krank ist.
Zum Beispiel mein Nachbar vor vielen Jahren, ein Anwalt a.D. Wir haben uns stets sehr lebendig und genussvoll unterhalten. Eines Tages sagte er mir mitten in einem Gespräch plötzlich: „Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie Sie heißen.“
„Ist das wichtig?“ fragte ich, als würde ich die Schuhe abstauben.
„Nein“, antwortete er, und wir beide lachten.
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