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„Proaktiv“ und der „Umpff“-Faktor

Hand aufs Herz: Wann war das letzte Mal, dass Sie die Vokabel „proaktiv“ proaktiv verwendet haben? Oder ich frage anders: Ist „proaktiv“ ein Bestandteil Ihres aktiven Wortschatzes?

Ich lernte das Wort 1997 kennen, und zwar in Washington D.C., wo ich ein Interview bei der NASA mit einem deutschen Mitarbeiter – leider fällt mir der Name nicht ein – führen sollte. Er war sehr nett und zeigte mir lauter hübsche Baumuster für Satelliten, Raumschiffe und Raketen. Auch über Werner von Braun haben wir ein wenig geredet. Ich entsinne mich, er hatte ihn gekannt.

Es war jedenfalls ein schöner Nachmittag.

Am selben Tag – ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es vor oder nach dem Interview war – traf ich mich mit zwei amerikanischen Bekannteninnen (notabene: neues weibliches Plural für das genderlose „Bekannten“). Ja, vielleicht muss man hier doch „Bekannteninnen“ schreiben. Sonst müsste ich auf andere Weise darauf hinweisen, dass es sich um zwei Frauen handelt.

Jedenfalls, diese zwei Frauen waren alte Bekannten aus München, wo beide einige Jahre gelebt hatten, bevor sie in die USA zurückkehrten.

Wir trafen uns in einem Restaurant. Ich habe eingeladen, zumal ich vom Verlag eine Reisepauschale bekommen hatte und zum Essen einladen durfte – wenn die Gäste irgendwie in Zusammenhang mit meinem Auftrag zu tun hatten. Ich erinnere mich aber nicht, ob sie bezüglich meines Auftrags eine Rolle spielten.

Wieso erzähle ich diese umständliche Geschichte? Weil ich bei diesem Essen (ich vergesse, was das für ein Restaurant war) zum ersten Mal den Begriff – hier auf Englisch – „proactive“ vernommen hatte.

Irgendwie hat man sogleich verstanden, worum es ging. „Proactive“ schien eine Art „active“ mit einem zusätzlichen „Umpff“ zu sein.

Wahrscheinlich habe ich den zwei Bekannten nicht mitgeteilt, dass ich das Wort „proactive“ nicht kannte. Entweder wollte ich meine Ignoranz nicht preisgeben, oder ich hatte das Gefühl, ich ahne ohnehin, worum es geht.

Und nun, liebes Publikum, möchte ich Ihnen kundtun, dass ich heute zum ersten Mal „proaktiv“ als deutsches Wort begegnet bin! Und zwar in einem medizinischen Text über die Behandlung von Augenkrankheiten: etwas über die Notwendigkeit eines behandelnden Arztes „proaktiv“ vorzugehen.

Nun war ich aber neugierig geworden und schlug meinen einbändigen Duden auf, um endlich den lexigrafischen Sinn dieses Wortes zu eruieren. Es stand folgendermaßen: „durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbstbestimmend und eine Situation herbeiführend.“

Alles klar? Diese Definition bestätigt in der Tat meine Vermutung, dass „proaktiv“ ein „aktiv“ mit etwas „Umpff“ ist. Nebenbei: Ich bewundere das Erklärungsgeschick des Dudenmitarbeiters (könnte natürlich auch eine Frau sein), der diesen schönen Satz formuliert hat. Hat was Proaktives. Meinen Sie nicht.

Wie dem auch sei. Diese Vokabel – ob auf Englisch oder Deutsch – ist noch ein Kleinkind in der Sprachnachbarschaft. Ich finde sie, z.B., in meinem fünf Kilo Webster’s Cambridge Dictionary aus dem Jahr 1989 gar nicht. Auch nicht in meinem fünfbändigen Duden von 1970.

Doch nun habe ich im Netz geforscht (wozu brauchen Sie mich, wenn Sie das Netz haben!?). Fakt ist: Dieses Wort wurde erst in den 1930er Jahren von einem amer. Psychologen aus dem Boden gestampft. Seine Premiere auf Deutsch fand 1946 in einem Buch des österreichischen Psychologen Viktor Frankl („Ein Psycholog erlebt das KZ“) statt.

Wohl in den 1980er Jahren wanderte es in den Fachjargon der Poppsychologen in den USA ein. War freilich nur eine Frage der Zeit, bis der Begriff problemlos den deutschen Pass erhalten hat.

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