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Wörter auf Wanderschaft – oder ade geliebte Bücher!

Gibt es so etwas wie Gruppentherapie für Büchersüchtige? Wer von Nikotin wegkommen will, bekommt einen Zuschuss von der Krankenkasse. Auch Junkies werden unter den Arm genommen, wenn sie Hilfe brauchen, aber Büchersüchtige?

Wer zählt zu den Betroffenen? Einfache Antwort: einer, der (oder die natürlich) jedes Mal wenn er auf Bücher schaut, ein Kribbeln verspürt und das Bedürfnis hat, näher hinzugucken. Egal wo: ob im Laden, im Internet – auch in den „Zu verschenken“-Kartons, die heutzutage haufenweise auf der Straße herumliegen.

Was genau findet der Büchersüchtige an Büchern so attraktiv? Gute Frage.
Will man sich vielleicht weiterbilden? Findet man das Aussehen des Buches anmutig – so wie wenn man auf der Straße von einem hübschen Gesicht oder Leib in Beschlag genommen wird? Keine Ahnung.

Oder vielleicht liegt es daran, dass ein Buch ein Träger von Wissen oder Unterhaltung oder von beiden ist? Auch von giftigen Ideen, sollte man hinzufügen.

Wissen Sie noch?: Vor nicht allzu langer Zeit gab es nicht so viele Bücher wie heute. Die Bücher, die man hatte, waren wie kostbare Perlen, die man leidenschaftlich liebkoste und schätzte.

Ich weiß nicht, wann genau es geschah, vielleicht erst vor etwa dreißig Jahren. Auf einmal schoss die Zahl der Veröffentlichungen in die Höhe. Keine Ahnung, warum. Da gibt es sicherlich Forscher, die dieses Thema doktorarbeitmäßig erforscht haben. Vielleicht spielte Amazon u. Co. eine Rolle. Sie haben Bücher – vor allem am Anfang – oft besonders billig feilgeboten. Oder war es vielleicht die Tatsache, dass seit ca. 30 Jahren die Schriftstellerei zusehends zu einer Mode geworden ist? Immer mehr Schriftsteller, immer mehr Verlage und natürlich immer mehr Bücher. Quantität nahm zwar zu, nicht aber Qualität.

In meinem Fall kam die Sucht wohl aus anderen Gründen zustande: Als langjähriger Journalist holte ich Bücher ständig aus der Bibliothek oder bekam sie vom Arbeitgeber einfach geschenkt. Manchmal kaufte ich Bücher auf Vorrat, mit dem Hintergedanken: Hmm, darüber könnte ich mal was schreiben. Wie dem auch sei. Die Bücher wurden immer mehr, und die Zahl der Regale in meiner Wohnung wuchs wie ein Fichtenwald. Doppelreihen wurden bald das Übliche. Leider. Man vergisst schnell, was sich in der zweiten Reihe versteckt.

Stellen Sie sich vor: Eine Zeitlang habe ich meine Bücher in der Hausratversicherung mitversichert! So kostbar waren sie mir.

Das ich süchtig war, nahm ich nicht einmal wahr. So ist es mit der schleichenden Krankheit…

Und dann geschah es. Über das „es“ habe ich bereits letzte Woche detailliert geschrieben. Aber ganz kurz: Am 1. April stürzten vier Bücherregale in meinem Arbeitszimmer ein. Ich selbst wurde beinahe unter den Büchern begraben. Wohl ein schrecklicher Tod und voller Ironie. Ein befreundeter Antiquar T. erzählte mir neulich von einem Kunden, der auf diese Weise erschlagen wurde.

Jedenfalls war der Schock wirksamer als jede Entzugstherapie. Denn jetzt bin ich dabei, radikal meine Bücher zu ordnen bzw. zu entsorgen. Mindestens elf große Kartons werden das Haus für immer verlassen.

Nebenbei: Wer heute versucht, Bücher loszuwerden, stellt sehr schnell fest, dass dies gar nicht so einfach ist. Es gibt einfach zu viele davon. Plötzlich wollen immer weniger Händler Bücher haben. Es muss was Wertvolles sein. Mein Freund T., der Antiquar, wollte kaum etwas von mir haben – obwohl ich manche Bücher bei ihm gekauft hatte! Neulich erklärte er mir, er versuche selbst zwanzig Tonnen Bücher zu entsorgen.

„Heißt das, dass du jetzt deine Bücher kiloweise und nicht mehr nach Titel entsorgst?“

„So ist es.“

Mir fällt gerade ein Titel ein, den ich gestern in einen Karton gesteckt habe. Das Buch hieß „Wörter auf Wanderschaft“. Ein Buch über Sprachgeschichte wohl.
Ja, habe ich gedacht. Auch meine Wörter gehen jetzt auf Wanderschaft!

Aufpassen: Die Informationsrevolution meint es ernst mit uns. Das Buch als Gegenstand verliert immer mehr an Wert. Klar. Bücher werden nie verschwinden. Sie werden lediglich eine andere Rolle spielen. Lassen Sie sich überraschen. Vergessen Sie aber nicht, was Sie hier gelesen haben. Es ist eine Art Mahnung…

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