Ich möchte heute von einer Wahrsagerin berichten, die mir neulich über den Weg gelaufen war. Früher habe ich viele Wahrsager und Wahrsagerinnen gekannt. Mittlerweile ziehe ich solche Menschen normalerweise nicht mehr an. Keine Ahnung, warum es mal so mal so ist.
In diesem Fall hatte ich mich mit einem alten Freund – und zugleich ehemaligen Kollegen – in einem Café verabredet. Ich bin etwas zu früh da gewesen und wartete am Tisch. Dabei habe ich gelesen. Genauer gesagt hatte ich mich in der frühen Lyrik des chilenischen Lyrikers Pablo Neruda vertieft.
Es ist zumindest in Deutschland üblich, dass man einen Tisch für sich in Anspruch nehmen kann, auch dann, wenn man allein sitzt. Selten fragt ein anderer, ob am Tisch ein Platz frei ist. Wer will ja mit einem wildfremden Menschen am gleichen Tisch sitzen? Ich nicht.
Besagte Wahrsagerin war eine ältere Frau, nicht auffallend angezogen. Ich sage „Wahrsagerin“, aber ich habe sie zunächst so nicht zur Kenntnis genommen. Der Laden war nicht voll, aber sie wollte unbedingt mit mir am Tisch sitzen. Mir war spontan unwohl zumute.
„Ich sehe, dass Sie auf jemanden warten“, sagte sie. „Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um einen alten Freund und Kollegen.“
Jawohl. Das hat sie gesagt. Ich war natürlich verblüfft.
„Er kommt etwas verspätet, sollte ich Ihnen vielleicht sagen.“
„Wieso wissen Sie dies?“ fragte ich.
„Weil ich auch Ihre Zukunft weiß.“
Hand aufs Herz. Das hat sie gesagt. Ich habe nicht geantwortet. Ich wusste ohnehin nicht, was ich dazu sagen sollte. Und wie oben schon angedeutet, habe ich in meiner Jugend viele Wahrsager und Wahrsagerinnen gekannt. Insofern war diese Frau keine ganz fremde Erscheinung. Auch früher haben mir manche Wahrsager über meine Zukunft erzählt. Besonders in Erinnerung bleibt aber einer, der einst geweissagt hatte, dass ich nach Europa übersiedeln und in einer Fremdsprache schreiben würde. Außerdem erzählte er, ich würde Erfolg als Dramatiker haben. Na ja. Bisher haben sich die ersten beiden Prophezeiungen bewahrheitet. Das mit dem Theater aber nicht. Zumindest noch nicht. Denn neulich habe ich ein Theaterstück geschrieben. Und es ist gar nicht schlecht. Aber jetzt zurück zur Wahrsagerin.
„Sie möchten mir etwas über meine Zukunft erzählen?“ fragte ich.
„Ja, das will ich.“
Und nun bestellte sie einen schwarzen Tee. Das heißt: Sie bekam eine Tasse heißes Wasser mit Teebeutel, riss den Beutel auf und schüttelte den Inhalt ins Wasser und rührte die losen Blätter mit einem Löffel. Ich schaute nur zu.
„Trinken Sie dies auf“, sagte sie.
„Ich trinke aber nur Kräutertee“, antwortete ich.
„Sie werden heute eine Ausnahme machen.“
Und genau dies tat ich.
Nachdem ich mit dem Tee fertig war, nahm sie mir die Tasse aus der Hand, wobei ich auch einiges an Teeblättern mitgetrunken hatte. Sie schmeckten scheußlich. Nun begann sie das Blättermuster am Tassenboden zu begutachten, wobei sie manchmal Selbstgespräche zu führen schien. Ich habe aber kein Wort verstanden und auch keine Fragen gestellt.
„Sie werden Theaterstücke schreiben“, sagte sie, „und diese werden erfolgreich im Theater gespielt.“
Jawohl. Das hat sie gesagt. Ich war ziemlich baff. Klar, habe ich nicht gefragt, woher sie das wüsste. Solche Fragen stellt man einer Wahrsagerin nicht.
„Mehr habe ich Ihnen nicht zu erzählen“, sagte sie schließlich. Und siehe da: In dem Moment erblickte ich meinen alten Freund. Er winkte zu und näherte sich mir.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte die Wahrsagerin. „Ich will zwei Karten in der ersten Reihe. Vergessen Sie das nicht.“
Mehr sagte sie nicht, und dann war sie weg.
Nun habe ich zwei Aufgaben: ein Theater zu finden, das mein Stück spielen wird, und dann muss ich die Wahrsagerin wiederfinden, damit ich ihr ihre zwei Karten schenken kann…
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