Kennen Sie die Story?
Es geschah kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Eine Frau war auf dem Weg in die Arbeit – ein Glück, wenn man damals überhaupt eine Arbeit hatte. Wir sehen sie in der Friedrichstraße durch den Trummer schlängeln. Es gab derzeit keine öffentlichen Verkehrsmittel.
Überall auf der Straße düstere Mienen von Menschen, die erst vor kurzem unsagbar Schreckliches erlebt haben. Ab und zu erblickt man auch einen amer. GI. Er trägt zwar eine Waffe, aber in seinen Händen sieht es ebenso harmlos aus wie der sanfte Ausdruck auf seinem jungen Gesicht.
Auch Trümmerfrauen sind zu erkennen. Sie räumen Ziegel- und Betonbrocken von zerstörten Häusereingängen.
Ja, so sieht es nach einem Krieg aus. Nach jedem Krieg.
Nun nimmt die Frau, die sich auf den Weg in die Arbeit durch die Ruinen schlängelt, in der Ferne einen Blinden wahr. Es fasziniert, wie er mit seinem Blindenstock behände durch den Trummer tapst. Beinahe hat man das Gefühl, er könne mittels seines Stockes richtig sehen. Man bewundert sein Selbstbewusstsein.
Er nähert sich der Frau zusehends, bis er so nahe an ihr herankommt, dass sie ihm Platz machen will, damit er vorbeikann. Aber nein. Er will nicht vorbei. Er hält an und stellt eine Frage: ob sie vielleicht wüsste, wie er in die Soundso-Straße komme.
Sie erzählt ihm, er gehe in die falsche Richtung. Der Schatten eines enttäuschten Blicks überzieht sein Gesicht.
„Schade“, sagt er. Er habe ein Schreiben, abzugeben, und jetzt müsse er wohl den ganzen Weg zurückmarschieren.
„Nein“, sagt sie und beteuert, dass sie für ihn gern besagten Brief an besagter Adresse abgeben würde.
Ein Augenblick der Betroffenheit und der Dankbarkeit. Er verneigt sich vor ihr, fast als möchte er ihr die Hand küssen. Er legt den Briefumschlag in die offene Handfläche und geht weiter.
Die Frau ist zufrieden, wie das halt ist, wenn man eine gute Tat leistet. Ja, sie hat einem Menschen in Not in einer Zeit der Not geholfen. Die Seele erwärmt den Leib. Nun dreht sie sich kurz um und sieht den Blinden in der Ferne. Aber warte. Auf einmal erscheint er alles anders als blind zu sein. Im Gegenteil. Er tänzelt leichtfüßig durch die Ruinen und schwingt mit seinem Stock wie ein Tänzer auf der Bühne.
Hmm. Was ist hier los?, fragt sie sich. Nun schaut sie sich den Umschlag nochmals an. Ja, in der Tat, eine Adresse, die auf ihrem Weg liegt.
Doch allmählich steigt in ihr ein ungutes Gefühl hoch. Etwas stimmt nicht, sinniert sie. Aber was? Etwas irritiert. Aber warum? Derweil geht sie ihren Weg weiter. Sie wird das Gefühl aber nicht los, dass etwas hier nicht in Ordnung ist. Was aber?
Plötzlich erblickt sie auf der rechten Straßenseite ein Polizeirevier. War es immer dort? Beinahe in einem Zustand der Hypnose steuert sie den Eingang an, um bei den Ordnungshütern nach Rat zu fragen. Aber warum?
Ein Polizist hört ihre Geschichte geduldig zu. Dann öffnet er den Brief. Auf einem Blatt Papier steht geschrieben: „Hier die letzte Lieferung des Tages.“
„Ich gratuliere“, sagt der Polizist. Glück gehabt. Wissen Sie, worum es hier geht?“
Die Frau schüttelt den Kopf.
„Besagte Adresse ist ein Schlachthof. Viele Menschen in der Stadt leiden, wie Sie wissen, Hunger. Man kauft sich Fleisch, wenn es billig ist und fragt nicht einmal, was das für ein Fleisch ist. Manchmal…ist es Menschenfleisch...“
Ja, natürlich macht die Polizei dem bösen Geschäft an dieser Adresse ein Ende. Ich aber erzähle diese Geschichte, ohne zu wissen, ob sie wahr oder erfunden ist. Ich habe sie lediglich gehört. Oft erzählt man Geschichten und gibt sie weiter, ohne zu wissen, ob sie wahr oder falsch sind. Hauptsache spannend…
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